ther esa hein
C
harles Manson, Ted Bundy und
Fritz Honka sind Serienmörder,
die durch ihre Taten in die Ge-
schichte eingingen und deren
Geschichten in Serien oder Ro-
manenin diePopkulturder Gegenwartge-
tragen werden. Ihre meist weiblichen Op-
fer hingegen sind in den fiktionalen Bear-
beitungen der Stoffe kaum ein Thema.
Den französischen Historiker Ivan Jablon-
ka trieb angesichts eines Mordfalls, der
vor acht Jahren in Frankreich erhebliches
Aufsehen errecht hat, die Frage um, wie
man das ändern könnte.
In seiner Reportage „Laëtitia oder das
Ende der Mannheit“ widmet er sich dem
SchicksalderjungenKellnerinLaëtitiaPer-
rais. Perrais wurde im Januar 2011 im Alter
von 18 Jahren in der Nähe ihres Wohnortes
Pornic brutal ermordet, es folgte ein enor-
mes Medienspektakel. Die Intention Ja-
blonkas:dasOpferwiederzumProtagonis-
tendeseigenenLebens(undauchdeseige-
nen Todes) zu machen.
Ivan Jablonka wählt in der Tradition
TrumanCapotes(denerauchzitiert),dieer-
zählerischen Mittel eines Reporters und
verbindet sie mit dem analytischen Hand-
werk des Historikers. In „Der Widersa-
cher“hatseinKollegeundLandsmannEm-
manuelCarrèrebereitsimJahr2000eben-
falls die Geschichte eines Mordes in einen
Tatsachenroman verwandelt. Anders als
Carrère aber macht Jablonka aber bereits
auf Seite zwei deutlich, dass sein Buch
„nur eine Heldin“ haben soll: die ermorde-
teLaëtitia.DieseAufgabe istnicht nursehr
ehrenwert, sondern setzt die 367 Seiten
gleich zu Beginn enorm unter Spannung:
Kanndasernsthaftgelingen,ohneinsSpe-
kulative, Fiktive abzugleiten?
Jablonka, der akribische Rechercheur,
sah sich Videos der Verhöre des Mörders
und Aufnahmen des Prozesses an, einigen
Prozesstagen wohnte er selbst bei. Er las
journalistischeundsoziologischeFachlite-
ratur, politikwissenschaftliche Werke
über Macht undDemokratie außerdem ei-
nen Haufen Zeitungsartikel. Und er führte
Gespräche: mitder Zwillingsschwesterdes
Mordopfers, mit ihrer Familie und Pflege-
familie,mitFreunden,miteinerJournalis-
tin der Nachrichtenagentur AFP, mit der
Anwältin der Zwillingsschwester, den füh-
renden Ermittlern. Und auch mit der Sozi-
alpädagogin des Jugendamtes, die für die
Zwillinge zuständig war. Laëtitia und ihre
Schwester Jessica hatten keine unbe-
schwerteKindheit.DerVaterwarAlkoholi-
ker, die Mutter war aufgrund psychischer
Probleme nicht fähig, sich um die Kinder
zu kümmern und so kamen die Mädchen
im Alter von neun Jahren zunächst in ein
Kinderheim, später in eine Pflegefamilie.
Den Arbeitsaufwand und seine Recher-
chemittel macht Jablonka beflissen sicht-
bar.Erverhehltauchnicht,dassersichim-
mer wieder in den Raum der Fiktion be-
gibt. Die Teile der Rekonstruktion, die er
nicht belegen kann, leitet er durch Fragen
ein, über deren Antwort sich der Leser
selbstklarwerdenmuss:„Sindsie(dieZwil-
linge,Anm.d.Red.)glücklich?“,oder:„War-
um interessierten sich Journalisten über-
haupt für Laëtitia, warum machten sie ei-
ne öffentliche Person aus ihr“?
Die Fragen sind Jablonkas Stilmittel,
mitdemerdieUneindeutigkeitderAntwor-
ten vorwegnimmt, die er nicht geben
kann. Sie überschreiten allerdings häufig
die schmale Grenze zwischen dem empa-
thischem Rechercheur und dem Voyeur.
Zum Beispiel, wenn es um den Missbrauch
des Stiefvaters an Laëtitias Zwillings-
schwester geht und Jablonka boulevar-
desk zu überlegen gibt: „Zufluchtsort Fa-
milie oder Sexgefängnis“? (Das Kurzkapi-
tel über den Missbrauch des Stiefvaters ist
mit dem missglückten Titel „Ein Verlieb-
ter auf Abwegen“ überschrieben).
DieBeschreibungendesMörderssindal-
lem Vorsatz zum Trotz ausführlich und de-
tailreich: Man erfährt von seinen obszönen
GesängenüberLaëtitia,dieer inseiner Zel-
le zum Besten gegeben hat, und die be-
schreiben,wasermitseinemOpfervordes-
sen Tod gemacht hat. Der Autor macht sich
außerdem eine Sprache zu eigen, in der die
getötete jungen Frau als „Fleischberg“ fir-
miert,„denmaninsWasserwirft“.Dasinhä-
rente Problem der Geschichte, vor dem Ja-
blonka von Beginn an steht ist natürlich
dies: Es gibt keinen Mordfall ohne Mörder,
da kann man dem Opfer so viel Raum ge-
ben, wie man möchte.
Stark ist das Buch dort, wo Ivan Jablon-
ka als Geschichtswissenschaftler auftritt
undsichaufdiepolitischeundgesellschaft-
liche Analyse des Falles verlegt. Wenn er
die Instrumentalisierung des Falles durch
Nicolas Sarkozy beschreibt, der sich den
Mord für seine Law-and-Order-Politik zu
Nutze macht. Auf jedes Verbrechen habe
Sarkozy ein Gesetz folgen lassen, schreibt
Jablonka, und auch den Mord an Laëtitia
nutzt er für eine Verschärfung des Straf-
rechts. Diese Passagen sind ein Lehrstück
über europäischen Populismus im frühen
- Jahrhundert. Auch die Aufarbeitung
der Vergangenheit von Laëtitias Perrais als
SymbolfigursozialbenachteiligterJugend-
licher ist informativ, spannend, lehrreich.
Als Romanautor aber scheitert Jablon-
ka, der einen unbedingten Wahrhaftig-
keitsanspruch behauptet, diesen dann
aber selbst immer wieder enttäuscht. Im-
mer wieder rückt sich der Autor selbst ins
Zentrum der Geschichtenicht nur, wenn es
darum geht, die Quellen sichtbar zu ma-
chen, sondern auch in Formulierungen
wie: „Möge mein Buch ihr (Laëtitias, Anm.
d.Red.)Leuchtensein“.ImvorletztenKapi-
telwirdJablonkavoneinerplötzlichenEin-
sicht gepackt: Am Ende seien „es immer
Männer, die machen, was sie wollen. Zum
ersten Mal schäme ich mich für mein Ge-
schlecht.“MitdiesemEindruckentlässtJa-
blonka, der erzählende Retter, der sich in
denStaubwirft,denLeser.Vondereigentli-
chen Heldin des Buches, der ermordeten
Laëtitia Perrais, ist da schon nicht mehr
die Rede. Man fragt sich an dieser Stelle,
waseigentlichausdemunspekulativenRe-
portagebuch geworden ist, das der Autor
eingangsangekündigthatte.Spannendge-
nug wäre der Gegenstand, das zeigen die
Kapitel über die französische Politik und
den Sozialapparat Frankreichs, jedenfalls
gewesen.
Ivan Jablonka: Laëtitia
oderdas Ende der Mann-
heit. Aus dem Französi-
schen von Claudia Hamm.
Verlag Matthes & Seitz,
Berlin 2019.
348 Seiten, 28 Euro.
Laëtitias Retter
Der Historiker Ivan Jablonka will einer ermordeten Frau ihre
Geschichte zurückgeben, spricht aber vor allem über sich selbst
12 V2 LITERATUR BELLETRISTIK SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH
Süddeutsche Zeitung Halle 3.0, C 1 03
Autoren im Gespräch mit SZ-Journalisten
Mittwoch, 16. Oktober 2019
12 .00 Uhr
Gourmettalk mit Ralf Frenzel
14 .00 Uhr
Christoph Amend, Wie geht es dir,
Deutschland?
Kia Vahland
15 .00 Uhr
Deniz Yücel, Agentterrorist
Kia Vahland
15 .30 Uhr
Ulrich Wickert, Identifiziert euch!
Warum wir ein neues Heimatgefühl
b rauchen
Franziska Augstein
16 .00 Uhr
Denis Scheck, Schecks Kanon
Jens Bisky
16 .30 Uhr
Dana von Suffrin, Otto
Felix Stephan
17 .00 Uhr
Patrick Bauer, Der Traum ist aus.
Aber wir werden alles geben, dass er
W irklichkeit wird
Robert Probst
17 .30 Uhr
Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme
Jens Bisky
Donnerstag, 17. Oktober 2019
11 .00 Uhr
Volker Weidermann, Das Duell
Karin Janker
11 .30 Uhr
Sascha Lobo, Realitätsschock
Bernd Graff
12 .00 Uhr
Philipp Ther, Das andere Ende der Ge-
schichte: Über die große T ransformation
Kia Vahland
12 .30 Uhr
Ulrich Ladurner, Der Fall Italien
Jens-Christian Rabe
13 .30 Uhr
Rüdiger Safranski, Hölderlin – Komm!
Ins Offene, Freund!
Johan Schloemann
14 .00 Uhr
Norman Ohler, Harro & Libertas
Johan Schloemann
14 .30 Uhr
Ursula März, Tante Martl
Felix Stephan
15 .00 Uhr
Herfried und Marina Münkler,
Abschied vom Abstieg
Jens-Christian Rabe
16 .00 Uhr
Martin Winter, China 2049
Franziska Augstein
16 .30 Uhr
Amelie Fried, Ich bin hier bloß die Mutter
Roswitha Budeus-Budde
17 .00 Uhr
Ildikó von Kürthy, Es wird Zeit
Detlef Esslinger
Freitag, 18. Oktober 2019
10 .00 Uhr
Cornelius Pollmer und Detlef Esslinger
über die Mark Brandenburg,
Heute ist irgendwie ein komischer Tag.
Meine Wanderungen durch die Mark
B randenburg
11 .00 Uhr
Richard David Precht, Sei du selbst
Bernd Graff
11 .30 Uhr
Michael Billig, Schwarz. Rot. Müll
Bernd Graff
12 .00 Uhr
Raoul Schrott, Eine Geschichte des W indes
oder von dem deutschen Kanonier der
erstmals die Welt umrundete und dann ein
zweites und ein drittes Mal
Christian Mayer
12 .30 Uhr
Außer man tut es / Politische Portraits der
Zeitgeschichte, vorgestellt von Heribert
Prantl im Gespräch mit Rita S üssmuth
Moderation: Franziska Augstein
13 .30 Uhr
Lukas Bärfuss, Malinois
Marie Schmidt
14 .00 Uhr
György Dalos, Für, gegen und ohne
K ommunismus
Jens Bisky
14 .30 Uhr
Mareike Nieberding, Verwende deine
Jugend
Felix Stephan
15 .00 Uhr
Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge
Detlef Esslinger
15 .30 Uhr
Rafik Schami, Die geheime Mission des
K ardinals
Roswitha Budeus-Budde
16 .00 Uhr
Hans-Joachim Noack, Die Weizsäckers
Jens Bisky
16 .30 Uhr
Stewart O’Nan, Henry persönlich
Marie Schmidt
17 .00 Uhr
Axel Hacke, Wozu wir da sind.
Walter Wemuts Handreichungen für ein
gelungenes Leben
Detlef Esslinger
Samstag, 19. Oktober 2 019
10 .00 Uhr
Katja Brandis, Seawalkers: Gefährliche
G estalten
Roswitha Budeus-Budde
10 .30 Uhr
Thomas Schuler, Auf Napoleons Spuren
Susanne Hermanski
11 .00 Uhr
Thorsten Schröder, Mit jeder Faser
Mein Weg zum härtesten Triathlon der Welt
Martin Schneider
12 .00 Uhr
Rolf und Adele Seelmann-Eggebert,
In Hütten und Palästen
Susanne Hermanski
13 .00 Uhr
Jan Weiler, Kühn hat Hunger
Susanne Hermanski
13 .30 Uhr
Paul Maar, Der kleine Troll Tojok
Roswitha Budeus-Budde
14 .00 Uhr
Uwe Timm und Axel Scheffler
zum 30. Geburtstag von Rennschwein
Rudi Rüssel
Roswitha Budeus-Budde
15 .00 Uhr
Reinhold Messner, Rettet die Berge /
Benevento und Der Eispapst. Die Akte
Weizenbach
Martin Schneider
Sonntag, 20. Oktober 2 019
12 .00 Uhr
Christian Roos, Autor der Reihe
Glücklich in / Glücklich reisen – sieben
D inge, die wir durchs Reisen gelernt
haben