geerbt. Es ist nämlich vor allem in der Modefotografie im-
mens wichtig: Es macht traurigerweise fast 90 Prozent von
großen Shootings aus. Man muss das können und mögen.
Wie haben Sie denn den Beyoncé-Shoot für die »Vogue«
organisiert?
Sehr gut habe ich den natürlich organisiert.
Sie lachen wieder! Warum?
Ich bekam im Mai des vergangenen Jahres einen Anruf von
Raul Martinez, dem Creative Director der amerikanischen
Vogue, er fragte mich, ob ich diesen Job machen wolle. Und
ich erinnere mich, dass ich sofort zurückfragte, an welchem
Tag denn dann bitte wo genau das Shooting stattfinden
solle und so weiter. Ich wollte auch deshalb alles so genau
wissen, weil ich noch nicht richtig glauben konnte, dass es
wirklich passieren würde.
Warum nicht? Weil der Auftrag so spektakulär war, »Vogue«,
die legendäre September-Ausgabe, der Superstar Beyoncé?
Nein, überhaupt nicht deswegen. Solche Ideen und Vor-
schläge fallen in meiner Branche oft wieder in sich zusam-
men. Es wird einfach aus vielen Projekten nichts.
Dieses Cover mit Beyoncé hat große Wellen geschlagen:
Sie waren der erste Schwarze, der überhaupt ein Cover für
die amerikanische »Vogue« fotografiert hat, dabei ist das
Magazin über 125 Jahre alt. Sie waren auf einen Schlag
berühmt. Viele hatten das Gefühl, Sie seien fast aus dem
Nichts aufgetaucht.
Was natürlich überhaupt nicht der Wirklichkeit entspricht.
Wissen Sie, kürzlich kam irgendwer auf mich zu und redete
von dieser »Lotterie«, in der ich gewonnen hätte: So sah der
meine Karriere. Ich habe aber keineswegs Lotto gespielt.
Wo ich jetzt bin, das hat, bei allem Glück, das jeder Mensch
braucht, vor allem mit sehr bewussten Entscheidungen und
einer Menge Arbeit zu tun. Bis zum Vogue- Cover sind sechs,
sieben Jahre Vorarbeit vergangen.
Sie haben bereits eine ganze Reihe filmischer Arbeiten ge-
zeigt. Wollen Sie irgendwann auch einen Spielfilm machen
oder eine Fernsehserie?
Ja. Oh, warten Sie mal bitte kurz. Ich muss das Gespräch
für eine Sekunde unterbrechen. Meine Freundin ist gerade
ins Zimmer gekommen.
Mitchell stellt den Ton aus und verschwindet für eine Minute
aus dem Bild. Seine Freundin winkt kurz in die Kamera.
Dann geht das Interview weiter.
Ihre Freundin ist aus Deutschland, haben wir gehört,
stimmt das?
Das stimmt, ja! Wir haben uns in London bei einer Aus-
stellung kennengelernt. Ende August war ich bei ihr zu
Hause in Stuttgart und im Umland, es gab viel schwäbisches
Essen. Da würde ich auch gerne mal länger fotografieren.
Finden Sie Ihr Leben – New York, London, Stuttgart,
»Vogue«, Comme des Garçons, Foam und so weiter – nicht
ein bisschen verrückt? Haben Sie Zeit, zu reflektieren, was
da gerade mit Ihnen passiert?
Ich mache gefühlt kaum was anderes, als darüber nach-
zudenken. Natürlich fühlt sich das in letzter Zeit auch für
mich alles krass an, hard and fast. Ich versuche deshalb, so
gut es geht, das Tempo rauszunehmen. Aber das ist schwer.
Zu manchen Sachen kann man nicht Nein sagen. Ich kann
nicht eine Kampagne für eine Modemarke ablehnen, die
ich immer geliebt habe. Und ich habe auch immer Angst,
dass ich etwas verpasse.
Wie heißt das so schön im Amerikanischen? Fomo?
Ja! Fear of missing out. Irgendwer wird in meinem Insta-
gram-Feed sehen, dass ich gerade in Paris bin, und das Ge-
fühl kriegen, ich hätte mich da spontan hingebeamt: Tyler
Mitchell lebt ein irre schnelles, globales Leben. Dieses Ge-
fühl von Neid und Angst, etwas nicht mitzunehmen, etwas
zu verpassen, nicht zu erleben, das kenne ich von mir selbst.
Das Internet macht verrückte Sachen mit unserer Wahr-
nehmung. Zeit und Raum wirken gedrängt dadurch. Alles
scheint immer möglich und so einfach. Man sitzt in New
York vor Instagram und sieht all die Leute, die sich gerade in
Paris amüsieren, und denkt sich: Warum bin ich nicht da?
Warum bin ich nicht eingeladen?
Ein wichtiger Moment in Ihrer Karriere als Fotograf war
eine Reise: 2015 sind Sie als 20-Jähriger nach Kuba geflogen
und haben die kleine, aber sehr lebendige Skater-Szene auf
der Insel fotografiert. Wie kam das?
Da hatte ich gerade das erste Jahr Filmhochschule in New
York hinter mir. Ich hatte damals eigentlich noch den fes-
ten Plan, Regisseur zu werden wie Spike Lee und eines
Tages große Hollywood-Filme zu machen. Aber nebenher
machte ich auch analoge Fotos – ein Hobby. Und ich schlich
mich zum Entwickeln immer in die Fakultät für Fotografie.
Was meinen Sie mit Schleichen?
Ich meine es ganz wörtlich: Ich wartete immer, bis die Tür
aufging, und schlüpfte dann hinein. Ich kannte den Zutritts-
code nicht. Da lernte ich eines Tages eine Professorin ken-
nen, Deborah Willis, und die erzählte mir von einer Mög-
lichkeit, in Kuba einen Kurs in Dokumentarfotografie zu
machen. Ich sagte zu, und auf einmal passierte ganz schnell
ganz viel. Mein Lehrer dort, Adrian Fernandez, guckte sich
zum Beispiel am ersten Tag meine Fotos an und sagte: Ah,
du kommst aus der Modefotografie? Und ich wusste nicht,
ob ich jetzt erstaunt oder gekränkt sein sollte, weil ich gar
nicht genau wusste, was Modefotografie überhaupt ist.
Das ist gerade mal vier Jahre her. Sie hatten damals noch
keine Vorstellung von Modefotografie?
Die Fotos, die ich ihm mitgebracht hatte, waren Porträts
von Freunden. Denen hatte ich bestimmte Klamotten an-
gezogen, weil die mir für die Farbkomposition der Motive
gefielen. Was sie trugen, war mir wichtig, aber nicht aus
Modegründen, sondern weil ich einfach eine Ob ses sion
mit der Farbtheorie hatte damals.
Mit der Farbtheorie?
Ja, ich habe bei der Farbkorrektur einfach ständig mit den
Farbrädern in der Edi tier- Soft ware Final Cut rumgespielt.
Ich hatte immer schon eine Ob ses sion mit Farbe.
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