Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

Näher kann man dem Stereotyp des norddeutschen
Handwerkers nicht kommen: Reinhold Junker trägt eine


Schiffermütze, ein Fischerhemd mit Lederweste und
kurze Hosen. Auf der Innenseite seines rechten Unter­


arms hat er eine Ankertätowierung. Er steht auf dem
Dach eines Hauses in der Wingst, irgendwo auf halbem


Weg zwischen Hamburg und Cuxhaven, kniet sich hin
und drückt mit beiden Händen auf die goldgelben Reet­


halme, mit denen das Dach bedeckt ist.
Es ist nicht leicht, einen Reetdachdecker­Meister zu fin­


den, der über seinen Beruf sprechen mag. Denn viele
von ihnen sind der Meinung, dass es sinnlos ist, einem


Außenstehenden von dem Handwerk zu erzählen – der
verstünde doch sowieso nichts.


Reinhold Junker ist anders. Er will sprechen, er will er­
klären, er hört damit gar nicht mehr auf, wenn er einmal


angefangen hat. Weil er das Handwerk liebt, das er vor


40 Jahren gelernt hat, und weil es ihn verunsichert, dass
es sich verändert.
Die Kunden, die sich von Reinhold Junker ihre Dächer
decken lassen, wünschen sich von einem Reetdach die
Nähe zur Natur. Das Dach sieht nach Idylle aus, und es
macht ein angenehmes Klima: Die Abertausenden Hal­
me bilden ein Luftkissen, das das Haus im Sommer frisch
hält und im Winter warm. Die Feuchtigkeit wird, bevor
sie in das Mauerwerk eindringen kann, durch den Wind
nach außen getragen.
Das Problem mit der Natur ist, dass sie nicht berechenbar
ist. Niemand kann eine Garantie dafür geben, wie lange
ein Reetdach hält. Wer Schindeln decken lässt, der kann
sich 30 bis 40 Jahre lang sicher sein, dass es nicht von oben
reinregnet. Schindeln werden von Maschinen geformt,
das macht sie verlässlich. Reet wird von der Umwelt ge­
formt. Wenn zum Beispiel viel Dünger und Gülle aus der
Landwirtschaft in die Flüsse gelangen, an deren Rändern
das Reet wächst (das Wort ist übrigens ein Synonym zu
Schilf ), bekommen die Halme mehr Nährstoffe. Dünger
eben. Das Reet wächst dann schneller, was allein unpro­
blematisch wäre. Aber auch Mikroorganismen wie Pilze
ziehen Kraft aus dem Dünger, wachsen mit – und wenn
sie zu stark wachsen, zersetzen sie das Reet irgendwann,
wenn es auf dem Dach liegt. Reinhold Junker kann nach
bestem Gewissen seine Arbeit machen, am Ende ist immer
auch Zufall im Spiel. Und wer kann heute noch den Zufall
ertragen? In einer Zeit, in der wir Erdbeben voraussagen
können und Krankheiten vorbeugen, einer Zeit, in der wir
fast ausflippen, wenn die Wagenreihung des ICEs falsch
herum ist, und im Supermarkt zu jeder Jahreszeit unser
Lieblingsobst kaufen können, klingt das doch verrückt:
nicht zu wissen, wie lange das Hausdach hält.
Junker wohnt in Dollern im Alten Land: 2000 Einwoh­
ner, zwei Kindergärten, ein Schützenverein und eine Fa­
brik für Fahrradkettenöl. Er ist ganz in der Nähe groß
geworden, in Kehdingen, 25 Kilometer entfernt, hat im
Alten Land gelernt, seinen Meister gemacht und einen
Betrieb übernommen. Das Reetdach auf seinem Haus
hat er seit 1984 nicht mehr decken müssen. Dollern ist
die Beständigkeit, die ihn zum Reetdach geführt hat.
Aber das Reetdach hat ihn in die Welt geführt: nach Nie­
büll bei Sylt, 200 Kilometer von Dollern entfernt, wo
er lernte, wie man löchrige Reetdächer ausbessert. Und
nach Japan, 9000 Kilometer von Dollern entfernt, wo
er eine Reetdachdecker­Konferenz besucht hat, auf der
Handwerker aus aller Welt ein an der in Work shops ihre
Tricks zeigen. Und es hat die Welt zu ihm geführt: Junker
beschäftigt einen syrischen Gehilfen.

Von JAKOB SIMMANK Fotos ROBIN HINSCH


Sein Beruf hat Reinhold Junker schon in die ganze Welt geführt – seine Heimat bleibt das Alte Land

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