ZEIT ABITUR Nr. 44/2019 10
droht, während die anderen bereits benach
teiligt sind und vor allem schauen, wie sie
überhaupt zum ersten Mal festen Boden
unter die Füße bekommen. Kann ich es mir
überhaupt leisten, zu studieren? Wie bewege
ich mich in einer Welt, die anders ist als die,
aus der ich komme?
Das ist alles andere als leicht. Auch weil
in den vergangenen 20 Jahren das Arbeits
leben flexibler und zugleich unsicherer ge
worden ist. Statt fest angestellt zu werden,
hangelt man sich immer öfter von Projekt zu
Projekt. Und falls sich mal kein nächstes
Projekt findet, springt Vater Staat nur sehr
ungern ein beziehungsweise fördert nur, in
dem er zugleich allerhand fordert. Die
Theorie hinter dieser Entwicklung: In einer
sich rasend wandelnden Welt müsse sich je
der ständig auf Neues einstellen, und das
gelinge umso besser, je weniger man sich auf
andere verlasse.
Für alle, deren Familien weniger stark
sind, die kein Erbe erwarten dürfen, nicht
über gute Beziehungen verfügen, nicht von
klein auf von Literatur, Musik und Kunst
umgeben waren und die Sicherheit im Auf
treten nicht in die Wiege gelegt bekommen
haben, ist die Aussicht auf berufliche und
soziale Unsicherheit besonders beunruhi
gend. Vielleicht sogar beunruhigender als
der Klimawandel oder eine Krise der
Demokratie. Dann liegt es nahe, Jura oder
Betriebswirtschaftslehre zu studieren, das
verspricht in unserer Gesellschaft, die weit
gehend von ökonomischen und rechtlichen
Prozessen bestimmt wird, die größte Stabili
tät. Der moralische Appell, doch bitte Be
rufsaktivist für hehre Ziele zu werden, kann
da als Übergriff und Anmaßung empfunden
werden. Und die Reaktion darauf könnte
lauten: Jetzt erst recht! Erst recht BWL, erst
recht maximal relaxt übers Wochenende
nach Malle, erst recht die fette Karre vom
ersten fetten Gehalt.
Eine Generation aber, die sich über die
Frage des Engagements spaltet – das ist das
Letzte, was eine krisengeplagte Welt jetzt
braucht. Was es braucht, ist Offenheit und
Interesse füreinander. Denn im Kern ist die
Herausforderung nach dem Abitur für alle
doch dieselbe: Es geht darum, die politische
und die private Dimension, die jedes erwach
sene Leben hat, ins Gleichgewicht zu brin
gen. Denn am Ende ist es keine Entweder
oderFrage. Es geht nicht um eine Entschei
dung: ich oder die Welt. Mal überwiegt das
eine, mal das andere, mal gibt es Spannungen
zwischen beiden, und mal fällt beides ganz in
eins, wie bei Greta Thunberg, deren Einsatz
für den Klimaschutz, wie sie sagte, ihr ganzes
Leben stabilisiert habe.
Oft braucht man Zeit, um die eigene
Balance zu finden. Und diese Zeit sollte man
sich untereinander geben. Das ist angesichts
von Krisen, die der Welt noch lange erhalten
bleiben, wichtiger denn je. Wer sich jetzt
nicht engagiert, wird es vielleicht später tun,
erst recht, wenn widerstrebende Meinungen
nicht stärker sind als Freundschaften. Wenn
also die politische und ökologische Situation
zu etwas zwingt, dann zu gegenseitigem Ver
ständnis.
TITELGESCHICHTE
»Ich kann mir vorstellen, in einer Kita zu arbeiten,
vielleicht mit geflüchteten Kindern. Meine Freunde
schütteln den Kopf darüber. Da verdienst du doch nichts,
sagen sie. Die Entscheidung hat aber noch Zeit: Nach
dem Abi werde ich nach Griechenland gehen, in die
Heimat meiner Eltern, und meinen Wehrdienst leisten.«
Apos, 18 Jahre
»Die Familie meiner Mutter stammt aus dem Sudan.
Alle sind sehr ehrgeizig, ständig werde ich gefragt, was
ich werden will. Was ich weiß, ist: Ich möchte einen
Beruf, in dem ich Spaß habe, viel reisen und meine
Sprachkenntnisse anwenden kann – ich spreche Deutsch,
Arabisch, Türkisch, Englisch und Schwedisch.«
Aaliyah, 18 Jahre