Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

GRÜNER LEBEN


Straße in der Kleinstadt Namie,
Präfektur Fukushima

Foto: Noriko Hayashi/Getty Images

Sonnenkraft


für Fukushima


Trotz Ökostrom in der Katastrophenregion tut sich das Land schwer


mit dem Abschied von der Atomkraft VON FELIX LILL


W


enn Shinsuke Kurihana
von Fukushima spricht,
hat er ein Funkeln in
den Augen. Der Mann
stammt aus der Region
und musste vor acht-
einhalb Jahren miterle-
ben, wie die Atomkatastrophe seine Heimat zer-
störte. Heute sagt er mit Stolz: »Wir arbeiten hier
an einem sehr großen Projekt.« Es gehe um das
ehrgeizigste energiepolitische Vorhaben in Ja-
pan. Um das zu belegen, hat er hier, im zehnten
Stock des Verwaltungsgebäudes der Präfektur
Fukushima, einen Stapel voller Zettel mit Grafi-
ken und Tabellen angeschleppt. »Fukushima ist
nicht die Region der Atomkraft«, sagt der stell-
vertretende Direktor für Wirtschaftsentwicklung
der Präfekturregierung. »Wir sind die Region der
erneuerbaren Energien.«
Noch enthalten die Worte des hohen Beamten
viel Hoffnung – und beruhen zu einem guten Teil
auf Zukunftsprojektionen. Vergleicht man Japans
47 Präfekturen nach deren Anteil erneuerbarer
Quellen an der gesamten Energieproduktion, steht
Fukushima mit zuletzt rund 32 Prozent nur auf
Platz zehn. Im Jahr 2040 will man die Tabelle je-
doch anführen. »Bis dahin«, sagt Kurihana, »wollen
wir 100 Prozent unseres Energiebedarfs mit Er-
neuerbaren produzieren.« Und die Atomreaktoren,
für die Fukushima so berüchtigt ist? Sind abge-
schaltet. »Sie werden auch nicht mehr hochgefah-
ren«, sagt er. »In Fukushima haben wir den Atom-
ausstieg vollbracht.«
Die Katastrophentage vom März 2011 waren
für jeden Japaner ein einschneidendes Ereignis.
Nachdem zuerst ein Erdbeben der Stärke neun
gemessen worden und daraufhin ein Tsunami
über den Nordosten des Landes hereingebrochen
war, kam es im an der Küste gelegenen Atom-
kraftwerk Fukushima Daiichi zu drei Kern-
schmelzen. Durch die Naturkatastrophe starben
fast 20.000 Menschen, Hunderttausende verlo-
ren durch strahlungsbedingte Evakuierungen ihr
Zuhause. Seit den Atombombenabwürfen auf
Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945 war
es die größte Katastrophe des Landes.
Das bis dahin kaum bekannte Fukushima
wurde nach 2011 weltweit zu einem neuen Sy-
nonym für den Atom-GAU.
Bilder der qualmenden Reaktoren sorgten
am anderen Ende der Welt, im Bundeskanzler-
amt in Berlin, für einen Sinneswandel der Re-
gierung unter Angela Merkel und waren der An-
stoß für Deutschlands Atomausstieg. Im direkt
betroffenen Japan aber blieben entsprechende
Reaktionen aus. Zwar fuhr die von der liberalen
Demokratischen Partei geführte Regierung in
Tokio zunächst alle damals zugelassenen 54
Atomreaktoren runter und rang mit einem end-
gültigen Ausstieg. Als aber eineinhalb Jahre spä-
ter die wirtschaftsnahe Liberaldemokratische
Partei die Wahl gewann und Shinzo Abe Pre-
mierminister wurde, war klar: Japan wird weiter
auch auf Atomkraft setzen. Mittlerweile laufen
wieder neun der 37 noch nicht endgültig herun-
tergefahrenen Reaktoren.
Die Regierung in Tokio beteuert, dass Japan
ein ressourcenarmes Land sei und weder über
reichlich Öl, Gas noch Kohle verfüge. So sei die
Atomkraft wichtig als Grundlage für den Ener-
giemix. Vor 2011 lag der Anteil der Atomkraft
an der Gesamtproduktion bei einem Drittel, in
den Folgejahren sollte er eigentlich auf 40 Pro-
zent steigen. Heute sind es nur noch fünf Pro-
zent. Gestiegen sind dafür Ölimporte aus dem
Mittleren Osten. Umfragen ergeben zwar seit
Jahren, dass die Mehrheit der Japaner gegen ein
Festhalten an der Atomkraft ist. Die Politik
bleibt aber davon unbeeindruckt. Nachdem här-
tere Sicherheitsauflagen festgelegt wurden,
durchlaufen derzeit 17 weitere Kernreaktoren
eine Prüfung zur Wiederinbetriebnahme.
In der Präfektur Fukushima ist alles anders.
Nicht nur die sechs Reaktoren der Kraftwerks-
ruine Fukushima Daiichi wurden vom Netz
genommen, sondern auch die vier Blöcke der
etwas weiter südlich gelegenen Anlage Daini.

Eine Blamage für Premier Shinzo Abe, der wie-
derholt betont hat: »Japan kann nicht ohne
Atomkraft.« In Fukushima, dessen Gouverneur
Masao Uchibori im Wahlkampf von Abes Par-
tei unterstützt wurde, heißt es hingegen: Man
kann ohne. Das Argument des Ressourcenman-
gels gilt hier nicht. »Das Potenzial erneuerbarer
Energien in Japan ist riesig«, sagt der Präfektur-
beamte Kurihana aus Fukushima.
Natürlich ist das Vorhaben auch eine Flucht
nach vorn. Noch ein knappes Jahrzehnt nach
der Katastrophe halten Länder wie China, Süd-
korea und Taiwan an Importbeschränkungen
für Nahrungsmittel aus der Region Fukushima
fest. Wegen der Strahlungsstärke dürfen bis heu-
te offiziell immer noch gut 40.000 Menschen
nicht in ihre Heimat zurückkehren. Und diese
Statistik zählt nicht mal jene Personen mit, die
gar nicht mehr zurückwollen. Vor allem jüngere
Menschen haben mittlerweile anderswo Wur-
zeln geschlagen. Und dass die Wirtschaftskraft
der Region heute über dem Vorkrisenniveau
liegt, ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass so
viel wiederaufgebaut werden muss.
Trotzdem, oder gerade deswegen, ist die grüne
Offensive Fukushimas landesweit beispiellos. Ku-
rihana zeigt eine Broschüre, in der alle Anlagen für
erneuerbare Energien aufgelistet sind. »Man kann
jede von ihnen besichtigen«, sagt er fast prahle-
risch. Die Landkarte der Präfektur – flächenmäßig
etwa so groß wie Schleswig-Holstein – ist über-
sät mit Solarparks, Windrädern, Wasserkraft-
werken, Anlagen für Geothermalkraft und Bio-
masse. Mehr als die Hälfte der grünen Produk-
tion speist sich in Fukushima aus Sonnenlicht.
Besonders ausgebaut werden soll in den nächs-
ten Jahren die Windkraft, insbesondere durch
Offshore-Anlagen.
»Um bis 2040 auf 100 Prozent unseres Bedarfs
zu kommen«, sagt Hidekazu Nanaumi, ein wei-
terer Präfekturbeamter, »müssen wir aber auch 15
Prozent unseres Verbrauchs einsparen.« Mit dem
Wiederaufbau der Region werden Smart Com-
munitys gefördert, deren Häuser besonders intel-
ligent im Stromverbrauch sein sollen und die für
den Gebrauch von Elektroautos ausgestattet sind.
Um andere Erfahrungen zu nutzen, ist Fukushima
auch internationale Kooperationen eingegangen.
Mit dem Land Nordrhein-Westfalen tauscht man
sich zum Thema Energiespeicherung aus, mit
dem spanischen Baskenland zu Energiegewin-
nung. Ende Oktober kommen Aussteller mehre-
rer Länder nach Fukushima zur Messe Renew able
Energy Industrial Fair.
Im Präfekturgebäude spricht man schon von
Japans »neuer Energiegesellschaft«, die durch
das »Modell Fukushima« vorangetrieben werde.
Während die Präfektur nämlich beim Ausbau
erneuerbarer Energien besonders ehrgeizig ist,
zeigt sich die Zentralregierung in Tokio auffal-
lend zögerlich. Bis 2030 soll der Anteil grüner
Energie am gesamten Energiemix in Japan von
derzeit 18 auf lediglich 25 Prozent gesteigert
werden. Länder mit vergleichbarem Energie-
konsum wie Deutschland, Italien, Großbritan-
nien, Dänemark oder Spanien sind allesamt
schon heute grüner und werden diesen Anteil
weiter ausbauen. Aus ganz Japan, berichtet
Hidekazu Na na umi, kommen grün orientierte
Regionalpolitiker deshalb nach Fukushima, um
nach Rat zu fragen. Schließlich haben Präfek-
turen und Gemeinden durch die Entscheidung,
welche Kraftwerke bei ihnen laufen sollen, auch
energiepolitischen Spielraum.
Allerdings tut Japans selbst ernannter grüner
Pionier einiges dafür, dass der Rest des Landes
auch weiterhin mit schmutziger Energie han-
tiert. Traditionell produziert Fukushima einen
deutlichen Energieüberschuss. »Wir beliefern
andere Regionen mit den Erzeugnissen aus un-
seren Kohlekraftwerken«, erklärt Shinsuke Kuri-
hana lapidar. Der Rohstoff dafür wird auf gro-
ßen Frachtschiffen vor allem aus Australien im-
portiert. Ein Kohleausstieg sei in Japan nicht
geplant, sagen die Energieplaner der Region.
Aber mit den Erlösen lasse sich immerhin in
Nachhaltigkeit investieren.

JAPAN
Präfektur
Tokio Fukushima

28 WIRTSCHAFT 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


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