10 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019
F
ür die Kanadier, die an die
langweiligen Anzüge des kon
servativen Premierministers
Stephen Harper gewöhnt wa
ren, bedeutete der Sieg des coolen,
stets strahlenden Justin Trudeau bei
der Unterhauswahl im Oktober 2015
einen Bruch. Während Harper es stets
abgelehnt hatte, über „Frauenproble
me“ zu sprechen, etwa die ungleiche
Bezahlung oder sexualisierte Gewalt,
ließ Trudeau wissen, dass er seine Söh
ne zu überzeugten Feministen erziehe.
In ostentativer Abgrenzung zu dem Zy
nismus, den man den Konservativen
vorwarf, versprach der neue Premier
„sunny ways“. Unter seiner Führung
sollte Kanada aus dem Schatten der
USA heraustreten und auf die Bühne
der internationalen Politik zurückkeh
ren – so versprach es Justin Trudeau am
Abend seines Wahlerfolgs.
Solche Reden begeisterten nicht
nur die Kanadier, sondern auch die in
ternationale Presse, die Trudeau zum
Gegenpol Trumps stilisierte – als per
sonifiziertes Antidot gegen den Euro
pa wie in den USA erstarkenden Na
tio na lismus und Rechtsextremismus.
Zunächst schien Trudeau den Erwar
tungen gerecht zu werden. Kurz nach
seinem Amtsantritt reiste er nach Lon
don und schwärmte dort von Kanadas
Vielfalt als „Stärke“. Und auf dem Welt
wirtschaftsforum in Davos erklärte Tru
deau im Januar 2016, Diversität sei gut
fürs Geschäft.
Auf der UNKlimakonferenz in Pa
ris brach Trudeau mit der jahrzehnte
langen Verweigerungspolitik seines
Vorgängers. Kanada sei „hier, um sei
ne Hilfe anzubieten“, verkündete der
Premier im Plenum – zur Freude der
Umweltaktivistinnen und der Länder,
die den Klimawandel aktiv bekämp
fen. Und er propagierte einen Neuan
fang in der Migrationspolitik: Wäh
rend die Europäer über die Verteilung
der syrischen Kriegsflüchtlinge stritten,
fuhr der Kanadier im Dezember 2015
zum Flughafen in Toronto und nahm
die Ankömmlinge mit den Worten „Ihr
seid hier zu Hause!“ in Empfang.
Vier Jahre später ist der Stern von
Justin Trudeau verblasst. Die Kana
dier sind misstrauisch geworden. Vie
le einst enthusiastische Kommentato
ren erkennen inzwischen eine Konti
nuität mit Harpers Politik, vor allem
in außenpolitischen Belangen. Seinen
Kritikern erscheint Trudeau mittler
weile vor allem als Vertreter des „vir
tue signalling“: Gemeint ist damit ei
ne Kommunikationstechnik, bei der
es darum geht, während viel beachte
ter Ereignisse möglichst oft in den Me
dien aufzutauchen – vor allem in den
sozialen Netzwerken –, um die eigene
Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen,
ohne dass darauf auch Taten folgen
müssen.
So brüstet sich der Premier mit
einer internationalen Entwicklungs
hilfepolitik, die auf „empowerment“
von Frauen durch Bildung, Mikrokre
dite und Gründerhilfe setzt. Tatsäch
lich hat die kanadische Regierung hier
nicht nur wenig investiert – Trudeau
findet sogar das Ziel, auf das sich die
Vereinten Nationen immerhin schon
vor 50 Jahren geeinigt haben, näm
lich mindestens 0,7 Prozent des BIPs
für Entwicklungshilfe auszugeben, „zu
ambitioniert“. Da wundert einen auch
nicht mehr folgendes vernichtendes Fa
zit der Canadian International Develop
ment Platform: „Die kanadische Rheto
rik über internationale Entwicklungs
zusammenarbeit wird nicht flankiert
von einem ernsthaften und gezielten
finanziellen Engagement.“^1
Gleiches gilt für das Thema Men
schenrechte. Nach einem Streit mit
SaudiArabien über dessen Umgang mit
Menschenrechtsaktivisten versicherte
Außenministerin Chrystia Freeland am
6.ugust 2018 bei einer Pressekonfe A
renz: „Wir werden die Menschenrech
te und die Rechte der Frau immer ver
teidigen, und daran wird sich nichts
ändern.“ Im Januar 2019 ließ es sich
die Ministerin dann auch nicht neh
men, die 18jährige Rahaf Mohammed
alKunun am Flughafen persönlich in
Empfang zu nehmen. Die junge Frau
aus SaudiArabien war vor ihrer Fami
lie geflohen und hatte sich per Twitter
an die Weltöffentlichkeit gewandt, wo
raufhin ihr mehrere Länder Asyl an
geboten haben – Kanada reagierte am
schnellsten.
Nur einige Monate zuvor hatte es
die kanadische Regierung abgelehnt,
einen Vertrag mit SaudiArabien über
die Lieferung militärischer Ausrüstung
in Höhe von umgerechnet 15 Milliar
den Euro zu annullieren – Ausrüstung,
die Riad auch im Krieg in Jemen ein
Die Tugenden des Monsieur Trudeau
Kanadas Premier gibt sich feministisch, umweltfreundlich und
solidarisch – tatsächlich folgt er in vielem seinem konservativen Vorgänger
von Richard Nimijean und David Carment
setzt, das übrigens humanitäre Hilfe
von Kanada erhält.
„Das ist ein bisschen so, wie wenn
man jemandem beim Kauf von Krü
cken unterstützt, obwohl man vorher
mitgeholfen hat, seine Beine zu bre
chen“,^2 sagt Cesar Jamarillo von der
kanadischen FriedensNGO Project
Plough shares. Trudeau versuchte die
Lieferung im Januar 2019 während ei
ner Konferenz an der Universität der
westkanadischen Stadt Regina so zu
rechtfertigen: In einer Demokratie
müsse jeder „die von den Vorgänger
regierungen unterzeichneten Verträge
respektieren“.
Außenpolitik im
Kielwasser der USA
Und entgegen seinen Ankündigungen
richtet Trudeau wie sein Vorgänger
die eigene Außenpolitik an der Linie
Washingtons aus. Beim G20Gipfel in
Hamburg im Juli 2017 überrumpelte
der Premier Angela Merkel mit der For
derung, in der Erklärung zur Umwelt
politik das Klimaübereinkommen von
Paris nicht zu erwähnen. Dies wurde
als Versuch interpretiert, USPräsident
Trump zu besänftigen, denn kurz da
rauf standen die Neuverhandlungen
über das Nordamerikanische Freihan
delsabkommen (Nafta) an.
Viel gebracht hat dieser Versuch al
lerdings nicht: Der neue Text (United
StatesMexicoCanada Agreement), der
im November 2018 unterzeichnet wur
de, enthält zwar ein paar zaghaft pro
gressive Schritte – etwa in Bezug auf
die Personenfreizügigkeit und beim
Handel mit Medikamenten –, vor al
lem aber enthält er Zugeständnisse an
Washington.
Eine der Klauseln räumt den USA
ein nie dagewesenes Vetorecht in Bezug
auf künftige Freihandelsvereinbarun
gen zwischen Kanada und China ein.
Zudem behält sich Washington die
Möglichkeit vor, im Namen seiner na
tionalen Sicherheit hohe Zölle auf Alu
minium und Stahl einzuführen.
Eigentlich wollte Ottawa die Han
delsbeziehungen mit Peking stärken,
um von Washington weniger abhängig
zu sein. Aber die kanadische Regierung
hat ihr eigenes Projekt versenkt. Das
wurde auch deutlich, als sie Anfang
Dezember 2018 die Finanzchefin des
chinesischen HuaweiKonzerns, Meng
Wanzhou, auf Washingtons Ersuchen
am Flughafen in Vancouver festneh
men ließ. Das Weiße Haus wirft der
Chinesin Betrug und Verstöße gegen
die IranSanktionen der USA vor.
Eine der wenigen Kritiker des ka
nadischen Vorgehens im Fall Wanzhou
ist Kanadas früherer Botschafter in Pe
king, John McCallum. Er musste seinen
Posten verlassen, nachdem er bei einer
Pressekonferenz angemerkt hatte, die
USA würden Extraterritorialität als Waf
fe einsetzen.^4
Ottawa beruft sich dagegen auf be
stehende Abkommen mit den Vereinig
ten Staaten. Was jedoch nichts daran
ändert, dass es sich bei den Sanktio
nen der USA gegen Iran, die letztlich
der Grund für den Auslieferungsan
trag sind, um unilaterale Maßnahmen
handelt, für die es keinen Beschluss
des UNSicherheitsrats oder irgendei
ne formelle Abstimmung zwischen Wa
shington und seinen Verbündeten gibt.
Nach Meinung des britischen Ma
gazins Economist versucht Ottawa le
diglich, die alten Prinzipien des libe
ralen Internationalismus an die von
der TrumpAdministration geschaffe
nen Realitäten anzupassen.^5 Dabei ist
der Spielraum von mittelgroßen Volks
wirtschaften wie der kanadischen we
gen des USchinesischen Handelskriegs
ohnehin schon eingeschränkt.
Andere Kommentatoren sind mitt
lerweile weniger nachsichtig. Ihrer Mei
nung nach legen die Entscheidungen
von Trudeaus Team nahe, dass Kana
das Regierung den Einfluss des mäch
tigen Nachbarn nicht einfach nur er
duldet, sondern dass sie dessen Vision
übernommen hat. So schreibt Tho
mas Walkom im Toronto Star von einer
„Rückkehr der liberalen Falken“, und
der ExDiplomat Daryl Copeland sorgt
sich: „Es hat den Anschein, dass Au
ßenministerin Freeland von der ‚hard
power‘ nicht nur fasziniert, sondern in
beträchtlichem Maße geblendet ist.“^6
2018 wurde Chrystia Freeland vom
peking und moskaufeindlichen US
Magazin Foreign Policy zur Diploma
tin des Jahres gekürt. Unter Freelands
Anleitung hat die TrudeauRegierung
Venezuela, Syrien, Russland, Iran und
Nordkorea ganz oben auf ihre außen
politische Prioritätenliste gesetzt. Da
mit imitierte – und unterstützte – sie
die Initiativen der TrumpAdministra
tion: Gipfeltreffen, Sanktionen, politi
scher Druck und militärisches Aufge
bot.
Freeland hat etwa das von ihr im Fe
bruar 2019 in Ottawa hastig anberaum
te Treffen der LimaGruppe zur Situa
tion in Venezuela als ein Musterbeispiel
für Diplomatie und Verständigung im
Sinne Südamerikas gepriesen. Dabei
zeichnet sich die LimaGruppe vor al
lem durch ihre Feindseligkeit gegen
über dem Regime in Caracas und sei
ne Entschlossenheit, Präsident Maduro
zu stürzen, aus.^7
Freeland hielt es nicht für notwen
dig, Moskau und Peking zu diesem
Treffen einzuladen, die beiden finanzi
ellen Hauptförderer Venezuelas. Auch
beim NordkoreaGipfel, den Kanada
2017 ausrichtete, waren keine Vertre
ter Russlands und Chinas zugegen.
Die TrudeauRegierung meint offenbar,
dass sich die Krisen, die den Planeten
bedrohen, ohne die beiden Mächte ent
schärfen ließen. Dabei würde Ottawa,
wenn es etwa beim Thema Arktis wei
ter mitreden will, zweifellos von Ge
sprächen mit Moskau profitieren. Und
seine wirtschaftlichen Ziele stimmen
in vielem mit denen Pekings überein.
Trotz alledem ist Ottawa offenbar nicht
an einem Dialog interessiert.
Allerdings droht nun ein Skandal
die angebliche moralische Überlegen
heit Kanadas zu unterminieren: Das
Büro des Premierministers wird des
Versuchs verdächtigt, Einfluss auf ein
Strafverfahren gegen den kanadischen
Baukonzern SNCLavalin genommen
zu haben, dem Korruption vorgewor
fen wird.
Zudem wurden jüngst Fotos aus
dem Jahr 2001 veröffentlicht, die
Tru deau auf einer Kostümparty mit
schwarz geschminktem Gesicht zei
gen. „Blackfacing“ ist eine Praxis, die
seit den Tagen der Bürgerrechtsbe
wegung als rassistisch erachtet wird.
Trotzdem sich der Premier für sein
damaliges Verhalten entschuldigt hat
- diese Angelegenheit torpediert die
Bemühungen der Regierung, vor der
anstehenden Wahl am 21. Oktober die
eigene vermeintliche Tugendhaftigkeit
zur Schau zu stellen, um von ihrer dürf
tigen diplomatischen Bilanz abzulen
ken. Liberale und Konservative liegen
in Umfragen derzeit gleichauf.
Werden die MittelinksWähler und
die Jungen, die Trudeau vor vier Jahren
ins Amt gewählt haben, die Liberalen
dafür bestrafen, dass sie ihre Verspre
chen nicht gehalten haben? Oder wer
den sie widerwillig erneut für Trudeaus
Partei stimmen, allein um die Konser
vativen zu verhindern? Die Entschei
dung der Liberalen, nicht an einer
Fernsehdebatte über die Außenpolitik
teilzunehmen – ein Thema, das bei der
Wahl 2015 mit zu ihrem Erfolg beige
tragen hatte –, zeugt von der Angst, mit
eigenen Widersprüchen und Fehlschlä
gen konfrontiert zu werden. Denn un
geachtet der schönen Reden hat Kana
da seinen Platz auf der internationalen
Bühne noch immer nicht gefunden.
Es wird eng für den Regierungschef SEAN KILPATRICK/ap
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(^1) Matthew Gouett und Bridget Steele, „How Canada’s G
summit fell short for women“, Policy Options, 22. Juni 2018.
(^2) Zitiert in Brendan Kennedy und Michelle Shephard,
„Canada’s dual role in Yemen: Arms exports to Saudi
coalition dwarf aid sent to war-torn country“, The Star,
- April 2018.
(^3) Siehe Lori Wallach, „Nafta à la Trump“, LMd, No-
vember 2018.
(^4) Siehe Jean-Michel Quatrepoint, Fahnder im Dienst
des Imperiums“, LMd, Januar 2017.
(^5) Canada in the global jungle“, „ The Economist, Lon-
don, 9. Februar 2019.
(^6) Zitiert in Thomas Walkom, „The liberal hawk has made
a comeback“, The Star, 28. Januar 2019.
(^7) Siehe Alexander Main, „Trumps Taskforce gegen Ma-
duro“, LMd, Juli 2019.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
David Carment und Richard Nimijean lehren an der
Carleton University in Ottowa und sind Co-Autoren
von „Canada, Nation Branding and Domestic Politics“,
Abigdon (Routledge) 2019.
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