Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

22 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019


letzten zehn Jahre – von denen 28 vom
Privatinvestor Bridges kamen – Vorrei-
ter im Gebrauch dieses neuen Finanz-
instruments.^2 Es wird bei der Bekämp-
fung von Armut, Kriminalität und Ju-
gendarbeitslosigkeit genutzt sowie
für Bildung, Gesundheit und Kinder-
schutz.
Der erste dieser Kredite wurde
2010, kurz nach der Finanzkrise, von
der Labour-Regierung unter Gordon
Brown angeschoben. Dessen konser-
vativer Nachfolger Cameron griff die
Idee auf. In einer Rede zu seinem ge-
sellschaftspolitischen Programm „Big
Society“ vom 19. Juli 2010 erklärte er,
er wolle eine Kultur des Ehrenamts und
der Philanthropie fördern, gleichzeitig
die öffentliche Verwaltung reformieren,
von Bürokratie befreien und für neue
Akteure wie freie Wohlfahrtsverbände
öffnen. So sollten „Gemeinschaften
mutiger Menschen in den Kommunen“
entstehen, die „ihre Angelegenheiten
selbst in die Hand nehmen“.
Im April 2012 gründete die briti-
sche Regierung die Big Society Capi-
tal, eine öffentliche Institution, die
von den größten britischen Banken mit
Mitteln aus „schlafenden Konten“ (die
seit 15 Jahren herrenlos sind) in Höhe
von fast 700 Millionen Euro üppig aus-
gestattet wurde.
Obwohl das Big-Society-Programm
in Großbritannien ein Misserfolg wur-
de, machte sein Ansatz Schule. Seit Sep-
tember 2010 wurden dutzende soziale
Wirkungskredite in aller Welt vergeben,
zunächst in den USA, Kanada und Aus-
tralien, dann in Europa und Israel, bis
hin zu Peru und der DR Kongo. Da es
keine globalen Standards dafür gibt,
können die SWKs von Land zu Land
sehr unterschiedlich aussehen, vor al-
lem, was die Investoren betrifft.
Frankreich engagierte sich nur zö-
gerlich. Im März 2016 schrieb das da-
mals von Emmanuel Macron geleitete
Wirtschaftsministerium ein Pilotpro-
jekt aus – mit unmittelbarem Erfolg:
66 Sozialträger und Vereine bewar-
ben sich, 13 entsprachen den Krite-
rien. Der Verein für das Recht auf wirt-
schaftliche Initiative (Association pour
le droit à l’initiative économique, Adie)
unterzeichnete den ersten Kreditver-
trag mit dem Staat und einem Inves-
torenkonsortium, dem die Bank BNP
Paribas, die staatliche Rentenkasse,
der Automobilhersteller Renault, ei-
ne Versicherung und eine Stiftung für
den ländlichen Raum angehörten. Mit
einer Investi tions summe von 1,3 Mil-
lionen Euro sollten bis zu 320 Men-
schen in ländlichen Gebieten und in
Gebirgsgegenden über Mikrokredite in
eine selbstständige Tätigkeit gebracht
werden.
„Mit diesem Instrument erhalten
wir eine gesicherte Finanzierung über
drei Jahre, was heute im Rahmen der
üblichen staatlichen Unterstützung
praktisch unmöglich geworden ist“,
erklärt Marc Olivier, Schatzmeister von
Adie.
Und Yannick Martell, Mitarbeiter
des Godin-Instituts, das zu sozialer In-
novation und öffentlicher Verwaltung
forscht, analysiert: „Diese Verträge
haben insbesondere mit dem Narra-
tiv von der Krise des Wohlfahrtsstaats
zu tun. So rechtfertigt man, dass der
Staat und seine Behörden nicht länger
die öffentliche Daseinsvorsorge betrei-
ben, sondern sie an Dritte auslagern.
Dahinter steht die Idee, in den Verei-
nen und freien Wohlfahrtsverbänden
gebe es genügend Ehrenamtliche, und
die Privatwirtschaft sei effizienter und
innovativer.“
In der französischen Projektaus-
schreibung wurde der SWK als Mittel
präsentiert, um „ein innovatives Maß-
nahmenpaket zur Prävention sozialer
Risiken zu erproben“. Die Herausfor-
derung für die Adie bestand darin, die
Zielpersonen in den entlegenen ländli-
chen Gegenden aufzusuchen: „Wir ha-


ben deshalb eine reine Fernfinanzie-
rung vorgeschlagen, die Gespräche zur
Vermittlung der Mikrokredite sollten
per Telefon erfolgen, zugleich gibt es
aber auch eine persönliche Betreuung
im unmittelbaren Umfeld“, erklärt Xa-
vier Favre, der für die Umsetzung ver-
antwortlich ist. „Wir sind sogar mit ei-
nem ‚Mikrokredit-Bus‘ durch die Alpen
getourt und haben die Vertreter der be-
teiligten Institutionen in die entfern-
testen Gebiete gefahren“, ergänzt Oli-
vier.
Persönliche Ansprache und ver-
stärkte Betreuung, Anpassung an die
gesellschaftliche und geografische
Umgebung – all das ist nicht neu. „Im
Grunde genommen ist das, was in die-
sen Verträgen als Maßnahmen vorge-
schlagen wird, schon lange bekannt.
Aber die Sozialarbeiter haben die Nase
voll von einem System, in dem sie gar
nicht das tun können, was wirkungs-
voll wäre, vor allem, weil ihnen die Mit-
tel dazu fehlen. Deshalb versuchen sie
jetzt, andere Wege zu gehen“, erläutert
die Soziologin Ève Chiapello.
Allmählich verbreiten sich betriebs-
wirtschaftliche Begriffe und Methoden
in der öffentlichen Verwaltung, und
so werden auch soziale Maßnahmen
inzwischen nach ihrer Wirksamkeit
(„Impact“) beurteilt. In Großbritan nien
richtete die Beratungsgesellschaft New
Economy in Zusammenarbeit mit der
Regierung eine Datenbank der „sozia-
len Kosten“ ein.^4
Darin kann man beispielsweise fol-
gende Angaben finden: Jeder Schüler,
der endgültig aus dem Schulsystem ge-
fallen ist, kostet die Gesellschaft jähr-
lich umgerechnet 13 450 Euro (Stand
2006), ein Langzeitobdachloser schlägt
bei den zuständigen Behörden vor Ort
mit 9200 Euro zu Buche (2011), wäh-
rend ein psychisch kranker Erwachse-
ner das englische Gesundheitssystem
mit 2544 Euro belastet (2008). Umge-
kehrt brachte die Integration eines
Asylbewerbers in den Arbeitsmarkt
jährlich 9275 Euro ein (Stand 2013).
„Ich war schon immer ein Compu-
terfreak“, grinst Herr Marsland, wäh-
rend er in seinem Rechner nach den
Daten der Wohnungslosen von Brent
sucht. Der Chef des Hilfsprojekts für
die Londoner Obdachlosen, der auch
noch für vier weitere SWK-Projekte im
ganzen Land zuständig ist, verkörpert
exakt das neue Management an der
Schnittstelle von öffentlicher Verwal-
tung und Privatwirtschaft.
Der Begriff „Impact“ hat im inter-
nationalen Finanzwesen im Zusam-
menhang mit Evaluierungsmethoden
für die Auswirkungen unternehme-
rischer Tätigkeiten auf Gesellschaft,
Wirtschaft und Umwelt Karriere ge-
macht. Seit den 2000er Jahren taucht
im Finanzjargon auch der Ausdruck
„soziale Rendite“ auf.

Das unsichtbare
Herz des Marktes

Inzwischen wurden Datenbanken ge-
schaffen, um Leuten, die ihr Geld welt-
weit sozial- und umweltverträglich in-
vestieren wollen, die Entscheidung zu
erleichtern. Das Portal Novafi etwa bie-
tet eine Übersicht neuer Investitions-
möglichkeiten, und das Portal Impact-
Base führt Kriterien auf, anhand derer
man die finanziellen, ökologischen
oder sozialen Leistungen einer Orga-
nisation messen kann.
Auch die sozialen Wirkungskredi-
te nutzen diese Evaluierungswerkzeu-
ge der Finanzwelt. Atara Fridler, die
Leiterin von Crisis, einem der beiden
in Brent tätigen Wohlfahrtsverbände,
zeigt sich zufrieden: „Ich sehe positi-
ve Auswirkungen bei den Ergebnissen,
die wir erzielen, wir müssen verantwor-
tungsvoller mit unseren Mitteln um-
gehen. Außerdem vertritt der Investor
Bridges ethische Grundsätze, die ich
teile.“

Allerdings bietet die ausschließ-
liche Orientierung am Ergebnis dem
Investor oder dem Projektträger auch
die Möglichkeit zu tricksen.^5 So hat es
Goldman Sachs 2015 gemacht, als das
Bankhaus ein Vorschulprogramm für
109 „gefährdete“ Kinder in Utah finan-
zierte, das deren Abschiebung auf För-
derschulen verhindern sollte. Die Er-
folgsquote von 99 Prozent – normaler-
weise sind es bei solchen Maßnahmen
10 bis 20 Prozent – machte eine Grup-
pe von Bildungsexperten misstrauisch,
die feststellte, dass der Auswahltest die
ursprünglichen Probleme der Kinder
stark übertrieben hatte.^6
In Großbritannien ist die Begeiste-
rung für die Sozialen Wirkungskredite
jedoch ungebrochen. Im April 2018 un-
terstützte die damalige Premierminis-
terin Theresa May Pilotprojekte für eine
landesweite Reduzierung der Obdach-
losigkeit: 11 Millionen Euro, die die
öffentliche Hand über SWKs zur Ver-
fügung gestellt hatte, sollten in solche
Projekte fließen. Auf dem Papier hatte
die soziale Wirkung höchste Prio rität:
Es sollte sichergestellt werden, dass
die betreuten Menschen wenigstens
acht Monate in ihrer neuen Wohnung
bleiben. In der Ausschreibung hieß es
jedoch, es werde diejenige Maßnahme
ausgewählt, die „die beste Kosten-Nut-
zen-Rechnung“ präsentiere.
Die Vorstellung, der Markt sei in
der Lage, die Mehrung des Wohlstands
mit sozialer Rendite zu verbinden, geht
auf Sir Ronald Cohen zurück, einen der
Vordenker der „Big Society“ und Grün-
der von Bridges Venture. Er war ur-
sprünglich im Risikokapitalmarkt tätig
und ging dann in die Politik: Bei den
Parlamentswahlen von 1974 und den
ersten Europawahlen 1979 kandidier-
te er für die Liberaldemokraten. 1996
schloss er sich der Labour Party unter
Tony Blair an und wurde ab 2004 einer
der wichtigsten Financiers der Partei.
Dieser „Ritter der gewinnorientier-
ten Sozialwirtschaft“, wie ihn die Wirt-
schaftspresse nannte, wird als Vater des
„sozialen Investments“ betrachtet. „Die

City kennt zwar den ‚Wohlstand der Na-
tionen‘ und die ‚unsichtbare Hand des
Marktes‘, aber mit Adam Smiths ‚Theo-
rie der ethischen Gefühle‘ und dem,
was man als das ‚unsichtbare Herz‘
des Markts bezeichnen könnte, ist sie
kaum vertraut“, erklärte Cohen 2014 in
einer viel beachteten Rede.^8

Goldman Sachs
gegen Schulversagen

In Frankreich wird diese Vision von
einigen wenigen Unternehmerpersön-
lichkeiten getragen, die die Regeln der
neoliberalen Marktwirtschaft in die
Sozial- und Solidarwirtschaft getragen
haben. Viele von ihnen sitzen im 2013
gegründeten Nationalen Beratungs-
ausschuss für sozial wirksames Invest-
ment (CNCIIS), damals unter dem Vor-
sitz von Hugues Sibille, dem ehemali-
gen Vizepräsidenten der Alternativbank
Crédit coopératif und Gründer des Kol-
lektivs für Social Entrepreneurship.^9
Der Sozialist Benoît Hamon, von Mai
2012 bis März 2014 Minister für Sozi-
al- und Solidarwirtschaft, schickte Si-
bille 2013 zur Social Impact Investment
Taskforce der G8. Sibille verfasste einen
Bericht,^10 der allerdings zunächst in der
Schublade verschwand.
Im Juni 2016 gründeten dann sechs
Finanzinstitutionen, darunter die staat-
liche Rentenkasse Caisse des dépôts
und die Alternativbanken Crédit coo-
pératif und Finansol, das Impact In-
vest Lab (Iilab), um eine Struktur zur
Begleitung künftiger SWK-Anträge zu
schaffen.
Obwohl innerhalb von Iilab die
SWK heftig kritisiert wurden, unter-
zeichnete dessen Leitung am 5. Mai ei-
nen Kreditvertrag, um für psychisch er-
krankte Menschen eine Alternative zur
stationären Zwangsunterbringung mit
Wohngruppen und intensiver Betreu-
ung zu schaffen. „Für uns war es end-
lich eine Gelegenheit, genug Geld für
die Umsetzung zusammenzubekom-
men“, berichtet der Psychiater Thomas
Bosetti und betont, wie schwierig es sei,

seiner von der Gesellschaft völlig abge-
hängten Zielgruppe zu helfen. An dem
Projekt, in dem 100 Menschen betreut
werden sollen, wirken fünf Ministerien
mit, und der Finanzrahmen kann bis
zu 6,6 Millionen Euro umfassen. „Hier
sitzen Akteure an einem Tisch, die für
gewöhnlich nicht zusammenarbeiten,
sich aber jetzt aus konkretem Anlass
gemeinsam um dieselbe Präventions-
frage kümmern. Das ist das Spannende
daran“, sagt die Iilab-Geschäftsführerin
Raphaëlle Sebag.
Und wie steht es um das Innova-
tions potenzial? Für die Investoren liegt
es nahe, vor allem solche Projekte zu fi-
nanzieren, die leicht zu evaluieren sind


  • auf Kosten anderer, die mit mehr Auf-
    wand qualitativ beurteilt werden müs-
    sen. Zudem werden große Organisatio-
    nen bevorzugt, denn viele kleinere Ver-
    eine haben gar nicht die Ressourcen,
    sich um solche Kredite zu bewerben.
    „Schon allein mit der Vorbereitung des
    Kreditantrags ist eine Vollzeitkraft ein
    ganzes Jahr beschäftigt“, erklärt Marc
    Olivier von Adie.
    Je mehr Akteure beteiligt sind, des-
    to komplexer wird die juristische und
    finanzielle Konstruktion. „Nach den
    Gesprächen mit Staatsvertretern und
    Investoren muss man ein Modell er-
    arbeiten, mit dem man beispielsweise
    berechnen kann, wie viele Klinikplätze
    eingespart werden können, damit die
    Investition rentabel ist“, bestätigt Bo-
    setti. Das Wichtigste bei der Ausarbei-
    tung der Kreditverträge ist es, das Ri-
    siko einzuschätzen – vor allem für die
    Investoren.
    „Es bleibt immer ein Rest Unsi-
    cherheit, weil es um Vorhaben geht,
    die noch nirgendwo getestet wurden.
    Manchmal müssen wir die staatlichen
    Stellen und die Betreiber auch wieder
    auf den Boden der Tatsachen zurückho-
    len: Anstatt einem Projekt die Finanzie-
    rung ganz zu verweigern, tun wir alles,
    damit es weniger riskant wird, und ver-
    handeln gegebenenfalls auch über ei-
    ne zusätzliche Risikoprämie“, be richtet
    Marsland, der Londoner Manager.


Amoako Boafo, Kenneth Ize, 2019, Öl auf Leinwand, 205 x 165 cm Foto: Nick Ash

▶ Fortsetzung von Seite 1


Soziale Profite

Free download pdf