Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 WAHLEN 2019 15


SVP-Präsident Rösti erntet Lob, obwohler verliert

Die grösste Schweizer Partei erzielt das schlechtes te Resultat seit zwanzig Jahren, ist aber nicht überrascht


AlbertRösti gilt als eher blasser


Parteipräsident.Aber dennoch


scheint ihm dieWahlniederlage


der SVP nicht zu schaden.


Ein Grund dafür: Eine


Alternative ist nicht in Sicht.


LUKAS MÄDER, BERN


AlbertRösti schaut eigentlich immer
freundlich. So auch amWahlsonntag,
als dieFernsehkameras auf ihn gerich-
tet sind.Freundlich erklärt derSVP-
Präsident die Niederlage seinerPartei.
Freundlich bleibt er, trotz einemVer-
lust von 12 Sitzen im Nationalrat, trotz
einem Minus von 3,8 Prozentpunkten
beimWähleranteil.Dass dieSVP das
schlechtesteResultat seit zwanzigJah-
ren erzielte, ist Rösti nicht anzusehen.
Das liegt vielleicht daran, dass die
SVP mit einem noch grösserenVer-


lust gerechnet hatte. Die Zürcher Kan-
tonsratswahlen im Frühjahr waren
der Weckruf. Damals verlor dieSVP
in jenem Kanton,in d em ihr schweiz-
weiter Aufstieg unter der Führung
Christoph Blochers begann,ganze 5,
Prozentpunkte. In derFolge wurde in
einer überstürztenAktion der Kanto-
nalparteipräsident ausgewechselt, ein
Nachfolgerauf Blochers Empfehlung
gewählt. DieSVP ist fürraschesDurch-
greifen bekannt.

Verluste «keine Katastrophe»


Doch dem nationalenParteipräsiden-
ten dürftekein vergleichbares Schick-
sal drohen.Das Resultat sei zwar nicht
schön, sagt Christoph Blocher auf
Tele Blocher, aber «keine Katastro-
phe». Der Sitzverlust entspreche etwa
den Zugewinnen von vor vierJahren.
«Ich habe gedacht, dieWahlen gehen
schlechteraus », sagt Blocher. Kritik an

der Parteileitung oder anRösti persön-
lich gibt eskeine.
Kritische Stimmen sind auch inner-
halb derPartei keine zu hören. Im
Gegenteil:Rösti erhält viel Lob. Er sei
ein Chrampfer, sehr fleissig und präsent,
sagt einePerson in derSVP-Führung.
Von einem Glücksfall für diePartei
spricht gar ein Dritter. Eine Mitschuld
am Taucher derSVP will demPartei-
präsidenten niemand geben. «Rösti war
im WahlkampfTag und Nacht unter-
wegs», sagt einePerson aus derPartei-
spitze. Und aufgrund der vielenRest-
mandate,die diePartei 2015 gewonnen
hat, habe man mit zahlreichen Sitzver-
lusten gerechnet.

Toni Brunnersschwieriges Erbe


Als Rösti imFrühjahr 2016 zum Präsi-
denten der grössten Schweizer Partei ge-
wählt wurde, war seineFreundlichkeit
eher ein Makel. Der Berner National-

rattratdie Nachfolge vonToni Brunner
an, dem politischenAusnahmetalent
der SVP: mit 21Jahren inden National-
rat gewählt,acht Jahre langParteipräsi-
dent, immer mit einem Spruch auf den
Lippen und jegliche Kritik weglachend.
Keine einfacheAufgabe fürRösti. Im
Vergleich dazu wirkte er blass und ohne
Charisma.Freundlich halt.
Doch seither sind mehr als drei
Jahre vergangen.Rösti hat an Sta-
tur und Sicherheit gewonnen – auch
wenn er in öffentlichenAuftri tten nicht
gleich souverän wie Brunner wirkt.
«Das Amt des Präsidenten muss man
lernen», sagt ein langjährigerSVP-
Nationalrat. Am Anfang habe es tat-
sächlich Bedenken gegeben, dassRösti
zu n ett und zu umgänglich sei.«Ab er
inzwischen ist er sehr stark gereift in
seinerRolle.»
Rösti sei einePerson mit einer klaren
Haltung, die vermittelnd auftrete und
Lösungen suche, sagt ein Mitglied des
Parteivorstands. «Authentisch» nennt
ihn ein weitererSVPler: «Er versucht
nicht, etwas zu sein, was er nicht ist.»
Und auch wenn er in den öffentlichen
Auftritten nicht an Brunner heranreicht:
Rösti, Doktor derETH Zürich, sei in
Sachgeschäften besser, er sei intelligen-
ter. Bei der BevölkerungkommtRösti
ohnehin gut an. Er wurde schweizweit
mit den meisten Stimmen in denNatio-
nalrat gewählt: 128 252.Das sind noch
mehr, als seinParteikollegeRoger Köp-
pel im bevölkerungsstärkeren Kanton
Zürich geholt hat.

Kein beli ebtes Amt


Dass Röstis Sitz wackelnkönnte, glaubt
in d er SVP offensichtlich niemand.Da-
für gibt es auch einen pragmatischen
Grund:Wer soll das Amt an Röstis
Stelle überhaupt übernehmen?SVP-
Präsident istkein Posten, um den sich
die Leutereissen, wie es ein National-
rat sagt. EinePartei sei wie eineFami-
lie,in der es schrulligeVerwandte und
belastete Beziehungen gebe.«Als
Präsident kann man es nie allenrecht
machen.»Viel Aufwand,wenigVer-
dienst. Eine Alternative zuRösti sei gar
nicht in Sicht.
Die neueAusgangslage imParla-
ment macht die Arbeit für dieSVP
und ihren Präsidenten nicht einfacher.
Mit einer Mehrheit von Mitte-links in
beiden Kammern würden vermehrt un-

liebsame Gesetze verabschiedet. Die
Anliegen derSVP hätten es imPar-
lament schwieriger.Was das für die
Partei heisst, ist für dieParteileitung
klar: Sie muss öfter dasReferendum
ergreifen,Vorlagen an die Urne brin-
gen, Abstimmungskämpfe führen.
Christoph Blochers Vorgabe lautet
denn auch:«Wirmüssenreferendums-
fähiger werden.»
Welche Rolle dabei der freundliche
Parteipräsident spielen wird, bleibt
offen.Rösti selber will sich am Mon-
tag nicht mehr zurWahlniederlage äus-
sern: nicht zu den Ursachen, nicht zu
den thematischen Schwerpunkten,nicht
zu seiner Zukunft alsParteipräsident.
Dazu sei für den Momentalles gesagt,
heisst es beimParteisekretariat.Dazu
gehört, dassRösti nicht an einenRück-
tritt denkt.«Verlieren istkeine Schande,
aber aufgeben wäre eine», sagte er
am Radio SRF. Rösti will im nächsten
Frühjahr nochmals antreten als Präsi-
dent derSVP.

Parteikollegen bezeichnen AlbertRösti als Chrampfer,der imWahlkampfTag und Nacht unterwegswar. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ


Wahlniederlage befeuertFlügelkämpfe inder SP


Brauchen di e Sozialdemokraten ausgerechnet nach einem schweizweiten Linksrutsch einen internen Rechtsrutsch?


Die SP hat dieWahlen vom


Sonntag überraschend verloren.


Während Sozialliberale


monieren, diePartei sei zu


ideologisch, wollen die


Jungsozialisten noch mehr


Klassenkampf.


LUCIEN SCHERRER


Für einenWahlverlierer ist Christian
Levrat am Sonntag reichlich forsch
aufgetreten. Die SP, so verkündete er,
wolle eine «progressive»Politik voran-
treiben und in einer Mitte-links-Allianz
die Führungsrolle übernehmen. Mit sei-
nem selbstbewussten Gebarenkonnte
Levrat allerdings nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass die SP bei denPar-
lamentswahlen das schlechtesteResul-
tat seit der Einführung des Proporz-
wahlrechts anno1919 eingefahren hat –
und das ausgerechnet an einemTag, der
unter dem Stichwort «Linksrutsch» in
die Geschichte eingehen wird.
Allein im Nationalrat haben die
roten Grünen von der GPS17 zusätz-
liche Sitze erobert, die SP dagegen
muss 4 abgeben, bei einemWähler-
anteil von nur noch16,8 Prozent. 2003
waren es noch über 23 Prozent. Cédric


Wermuth, Aargauer Nationalrat und
Ständeratskandidat, drückt es so aus:
«Nach diesemResultat können wir
nicht einfach zurTagesordnung über-
gehen. Die Grünen stehen uns zwar
sehrnahe, aber es kann doch nicht
sein, dass es einen Linksrutsch gibt,
ohne dass die SP gewinnt.»
Wermuth hat am Sonntag imkonser-
vativen Aargau trotz pointiert linkem
Profil zumindest einenAchtungserfolg
erzielt. Die SP, so betont er, sei gerade
im Aargau breit abgestützt und man
dürfejetzt keine voreiligen Schlüsse
darüber ziehen, ob sie zurechts oder zu
links sei.

Daniel Jositschs Forderung


Andere sind weniger zurückhaltend.
Al len voran der Zürcher National-
rat Daniel Frei, der imFrühling von
der SP zu den Grünliberalen gewech-
selt hat, nach jahrelangen Querelen
mit dem linkenParteiflügel.Für ihn ist
klar: «Der linksideologischeKurs der
SP rächt sich, auch wenn die Gründe
für derartige Niederlagen immer viel-
schichtig sind.»
Eine klare Mitverantwortung da-
für trägt lautFrei auch SP-Präsident
Levrat: Dieser habe dieJungsozialisten
gefördert und salonfähig gemacht, wäh-

rend derrechte Parteiflügel unter seiner
Ägide endgültig marginalisiert worden
sei. «Die SP», so Freis Befund, «steht
bereits heute näher bei der deutschen
Linkspartei als bei der SPD.» Und:
«Wer behauptet, die SP vertrete immer
noch ein breites Meinungsspektrum, lei-
det unter fortgeschrittenemRealitäts-
verlust.»
Dass sich die SP gegenüber der poli-
tischen Mitte wieder vermehrt öffnen
sollte, findet auch der Zürcher Ständerat
Daniel Jositsch. Der Strafrechtsprofes-
sor profiliert sich in der SP schon lange
als kompromissbereiter Pragmatiker
mit Law-and-Order-Kante. Am Sonn-
tag ist er mit einemRekord ergebnis von
über 200000Stimmen imAmt bestätigt
worden. «Es braucht eine Stärkung des
sozialliberalenFlügels», sagt er, «bes on-
ders an derBasis. Hier müssen wir uns
stärker einbringen.»
Gegen diePopularität der Grünen,
so JositschsThese, habe die SP wenig
ausrichtenkönnen.Dennoch seien ihre
Verluste auchselbstverschuldet: Ers-
tens, weil sozialliberalePositionen ver-
nachlässigt würden; zweitens, weil die
SP ihreRolle als «führende europapoli-
tischePartei» abgegeben habe. So hält es
Jositsch zumindest für «auffällig», dass
am Sonntag gleich dreiVertreter des
EU-kritischen Gewerkschaftsflügels ab-

gewähltworden sind – allen voran Unia-
Geschäftsleiter CorradoPardini.
Wieweit sich der sozialliberale, unter-
nehmerfreundliche Flügel der SP über-
haupt nochrett en lässt, ist jedoch eine
andereFrage. Denn auf vieleVerbün-
dete kannJositsch zumindest aufnatio-
naler Ebene nicht mehr zählen, und bei
der Basis scheinen die linkenTöne gar
nicht schlecht anzukommen.

Wähler stärken linken Flügel


Mit derBaslerin Eva Herzog hat zwar
eine weitere wirtschaftsfreundliche SP-
Vertreterin dieWahl in den Ständerat
geschafft. Sonst aber haben die verblie-
benen SP-Wähler eher den linken Flü-
gel gestärkt: In Bern schickten sie die
resolut antikapitalistische Ex-Juso-Prä-
sidentinTamaraFuniciello in den Natio-
nalrat, während der behäbigeAdrian
Wüthrich seinenPosten räumen muss;
in Zürich haben die linke CélineWid-
mer undFuniciellosVorgängerFabian
Molina dieWahl geschafft,der moderate
Martin Naef hingegen nicht mehr.Auch
in Baselland und Neuenburg waren die
Jungsozialisten erfolgreich.
Für die klassenkämpferischenJung-
sozialisten liegt das Problem der SP
denn auch nicht darin, dass die SP zu
links ist.Vielmehr ist sie ihnen immer

noch viel zu lasch. «Die SP ist zu stark
in die Mitte gerückt», schreibtJuso-Prä-
sidentin Ronja Jansen in einer Medien-
mitteilung, «wirkönnen die Menschen
nicht begeistern mit einerlauwarmen
Politik derKompromisse, wir müssen
echte Alternativen aufzeigen.»Wasmit
diesen «Alternativen» gemeint ist, ist
klar: Die kapitalistische Gesellschafts-
ordnung soll durch ein sozialistisches
System ersetzt werden.
Die Querelen um den «richtigen»
Parteikurs werden die SP wohl noch
eineWeile beschäftigen, zumal erwar-
tet wird,dass Parteipräsident Levrat
nächstes Jahr zurücktreten könnte.
Daniel Jositsch hofft, dass jemand über-
nimmt, der «ausgleichend wirken» kann
und der nicht aus der «extremen» Ecke
kommt. Namen will erkeine nennen,
aber es ist ein offenes Geheimnis, dass
die Nationalrätinnen FlaviaWasserfal-
len oder Nadine Masshardt besser in
dieses Schema passen würden als der
ehemaligeJuso-Präsident und Bürger-
schreck CédricWermuth, der ebenfalls
als möglicher Nachfolger Levrats ge-
handelt wird.Wermuth tritt heute zwar
gemässigter auf, und seineFähigkeiten
als Motivator sind unbestritten – für
viele Linksliberale bleibt er jedoch ein
Wolf, der gerade sehr viel Kreide ver-
speist hat.
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