Dienstag, 22. Oktober 2019 WAHLEN 2019 17
Wahlumfragen:
Die Politologen
lagen daneben
Keine Prognose sah die «grüne Flut»
unddas Absacken der SPvoraus
MICHAEL SCHÖNENBERGER
Journalismus ist eine unpräziseWissen-
schaft,lautet ein Bonmot.Wie es der
Wahlausgang in der Schweiz ein weiteres
Mal gezeigt hat, verhält es sich mit der
Demoskopie genau gleich. Die Umfra-
gen, die imVorfeld vonWahlen erschei-
nen, lagen zumTeil weit neben dem tat-
sächlichenWahlergebnis. Vorallem die
öffentlichrechtliche SRG und Medien-
häuser wieTamedia oder Ringier haben
im Kampf umAufmerksamkeit aufWahl-
umfragen gesetzt. Die NZZ verzichtete
auf jegliche eigene Umfrage, berichtete
einzig über das SRG-Wahlbarometer.
Sämtliche Erhebungen unterschätz-
ten die grüneWelle: Niemand sah sie in
diesemAusmasskommen.Dadas von
Sotomo für die SRG erstellteWahl-
barometer die stärksteVerbreitung in
der Schweiz findet, nehmen wir hier die
Prognosen desPolitgeografen Michael
Hermann genauer unter die Lupe. Im
Hauptbericht vom Oktober – es han-
delt sich um das letzteWahlbarometer
- prognostizierte Hermann den Grünen
einen Zuwachs um 3,6 Prozentpunkte
(Ergebnis: +6,1 Prozentpunkte).
Abweichungenbei SP und CVP
Auch derVerlust bei derSVP wurde we-
nig präzise erfragt: Hermann ging von
minus 2,1 Prozentpunkten aus (Ergeb-
nis:–3,8 Prozentpunkte).Während das
Wahlbarometer bei denVerlusten der
FDP richtig lag, konnten erstaunlicher-
weise zwei wichtigeWahlergebnisse
überhaupt nicht antizipiert werden: der
Absturzder SP unddie Genesung der
CVP. Immerhin fuhren die Sozialdemo-
kraten das schlechtesteWahlergebnis
der Geschichte ein. Sotomo prognosti-
zierte ein Minusvon 0,6 Prozentpunkten
(Ergebnis: –2,0 Prozentpunkte).
Sotomo gab den statistischenFeh-
lerbereich bei ±1,4 Prozentpunkten an.
Diese Absicherungen sind für diePoli-
tologen praktisch, denn sie bieten ihnen
immer eineRechtfertigung, sollten sie
für einmal etwasdaneben liegen. Aber
diesmal hilft es wenig.
Das Wahlbarometer lag zwar fast rich-
tig, was die zusammengezähltenPartei-
stärken von SP und Grünen anbetrifft.
Sotomo bezifferte denWähleranteil bei-
derParteien addiert auf 28,9Prozent (Er-
gebnis: 30 Prozent).Aber die Prognosti-
ker lagen bei der Mobilisierung falsch.
Sie gingen von einer Steigerung bei der
Wahlbeteiligung aus und schrieben im
Hauptbericht: «Der prognostizierte Zu-
wachs des linkenLagers geht somit fast
ausschliesslich auf die Mobilisierung ehe-
maliger Nichtwähler zurück.» Nun sank
aber dieWahlbeteiligung gegenüber 20 15
sogar leicht. So haben wir es neben grü-
nen Zugewinnen vor allem mitVerschie-
bungen zwischen SP und Grünen zu tun.
Auch Longchamp lagdaneben
WenigeTage vor derWahl wartete dann
das Online-Portal«Watson» mit der «ulti-
mativen»Wahlprognose desPolitologen
Claude Longchamp auf. Der Gründer
desForschungsinstituts GFS Bern habe
dabei «alle kantonalenWahlen der letz-
ten vierJahre, die neuestenWahlumfra-
gen (SRG,Tamedia, Gallup-Umfrage)
berücksichtigt». Das sagenhafte «Combi-
ning-Modell», mit dem Longchamp 20 15
tatsächlich sehr präzise gelegen war,
versagte dieses Mal. FDP und SP sagte
Longchamp gleichbleibende Wähler-
stärken voraus (beide fuhren allerdings
Verluste ein). Die Gewinne der Grünen
und der Grünliberalen waren viel zu tief
angesetzt. DieVerluste derSVP eben-
falls. Überdies orakelte Longchamp, dass
die CVP weiterhin vor den Grünen lie-
gen werde. «Watson» titelte kurzerhand
«Grüne hinter der CVP» und schrieb
weiter, dass Spekulationen über einen
grünen Bundesratssitz einenDämpfer
erhaltenkönnten.
Zusammengefasst: SowohlPolito-
logen wieJournalistenkönnen mit ihren
Einschätzungenfalsch liegen.Aber nur
Erstere nennen sichWissenschafter.
Jung, weiblich, gut ausgebildet
Unter den neugewähltenGrünen und Grünliberalen fällt der hohe Anteil an Wissenschaftern auf
Das Wahlwochenende hat bei
den siegreichen Grünen und
Grünliberalen 29 «Frischlinge»
nach Bern gespült. Die Neuen,
welche diePolitik der nächsten
Ja hre mitprägen werden, dürften
dasParlament in mancher
Hinsicht verändern.
JÖRGKRUMMENACHER
Manchen Neugewählten blieb am Sonn-
tag derJubel beinah in derKehle ste-
cken, so gross war die Überraschung
über dasAusmass des grünenWahlsiegs.
Nicht wenige, die künftig im Bundeshaus
politisieren werden,rechneten nicht da-
mit, gewählt zu werden. Stellvertretend
dafür stehen die beiden neugewählten
grünen Ständeräte: der 35-jährige Glar-
nerJurist Mathias Zopfi und die 34-jäh-
rige Neuenburgerin CélineVara, auch
sieJuristin. Beide sind jung und gut aus-
gebildet. Generell lassen sich bei den
neugewählten Grünen und Grünlibe-
ralen drei besondere Merkmale heraus-
schälen: ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre
Kompetenz.
Weiterer Zuwachs möglich
DieFraktion der Grünen zählt künf-
tig 28 Mitglieder, darunter 11 Bisherige
und 17 Neue. Hinzukommen die beiden
neuen Ständeräte, wobei in den zweiten
Wahlgängen in einigen Kantonen die
Chance auf weiteren Zuwachs besteht.
Unter den 16 gewählten Grünliberalen
finden sich 6 Bisherige und 10 Neue.
DerFrauenanteil unter den künftigen
Parlamentsmitgliedern mit grünem An-
strich liegt nochmals deutlich höher als
der ohnehin auf 42 Prozent angewach-
sene Anteil im künftigen Nationalrat.
17 der 28 Mitglieder der künftigen grü-
nenFraktion sind weiblich: ein Anteil
von gut 60 Prozent. Bei den Grünlibera-
len ist dasVerhältnis mit je achtFrauen
und Männern ausgeglichen. Die grüne
Welle hat wesentlich dazu beigetragen,
den Nationalrat weiblicher zu machen:
Unterden 29 neugewählten Grünen und
Grünliberalen befinden sich 16 Frauen
und 13 Männer.
Ein zweites signifikantes Merkmal:
Die grün politisierendenFrauen drü-
cken den Altersdurchschnitt imPar-
lament deutlich nach unten. Die zehn
grünenFrauen, die neu gewählt wur-
den, sind durchschnittlich 39Jahre alt.
Die beidenJüngsten sind mit 27Jah-
ren die Zürcherin Meret Schneider und
die St. GallerinFranziskaRyser, die Äl-
teste heisst Katharina Prelicz-Huber, ist
60-jährig, Präsidentin der Gewerkschaft
VPOD und startet eine zweite Karriere
in Bundesbern, sass sie doch schon von
2008 bis 2011 im Nationalrat.
Die neugewählten grünen Herren
sind mit 48Jahren etwasälter. Hier
fällt auf, dass zwei altgediente Senioren
ihreFeuertaufe in Bern erleben wer-
den: der 63-jährige Präsident derThur-
gauer Grünen,Kurt Egger,und der
61-jährige Solothurner Kantonsrat Felix
Wettstein. Gleiches gilt bei den Grün-
liberalen für den 59-jährigen St. Galler
Thomas Brunner, der bisher auf loka-
ler Ebene politisiert hat und Grünen-
Fraktionschef im St. Galler Stadtparla-
ment ist. Bei den Grünliberalen sind die
Neugewählten generell älter als bei den
Grünen: DieFrauen sind durchschnitt-
lich 44Jahre alt, die Männer 52.
Mehr Sachverstand
Das dritte signifikante Merkmal: Um-
weltpolitischeFragen werden im künf-
tigenParlament mit (noch) mehr Sach-
verstand debattiert werden.Franziska
Ryser, dieJüngste, ist ebenso Maschi-
neningenieurin wieKurt Egger, der Äl-
teste,der eineEnergiefirma leitet. Die
meisten der Neugewählten haben ein
Studium hinter sich, mehrere befassen
sich beruflich mit Umweltwissenschaf-
ten:Thomas Brunner ist Klimatologe,
der in Zürich neugewählteJörgMäder
Umweltnaturwissenschafter, Barbara
Schaffner, eine andere neugewählte
Zürcher Grüne, ist Doktorin der Phy-
sik und betreibt eine Energieberatung.
FabienFivaz, der in Neuenburg dieWahl
geschafft hat, ist Biologe.AndreyGer-
hard, inFreiburg neu in den Nationalrat
gewählt,ist Ingenieur undFirmengrün-
der, FrançoisPointet, der in derWaadt
gewählte Umweltliberale, Mathemati-
ker und Ingenieur.
GeburtsortWestschweiz
Die Chance, dass mitValentine Python
eine weitereKlimatologin nachrutscht,
ist gross: dann nämlich, wenn in der
Waadt die als Nationalrätin bestätigte
AdèleThorens-Goumaz in den Stände-
rat gewählt wird. Die Liste liesse sich
verlängern. Hinzu kommen weitere
Juristen, Biobauern, Wissenschafter
aller Art,Politologen wie der imWal-
lis überraschend gewählte Christophe
Clivaz, auchPolitiker mit breiter Erfah-
rung, etwa ManuelaWeichelt-Picard,die
ehemalige ZugerRegierungsrätin.
Mit 69Jahren istDaniel Brélaz der
Doyen unterden grünen Nationalräten.
Der ehemaligeLausanner Stadtpräsi-
dent gehört zu jenen 11 Grünen, die
schon bisher in der GrossenKammer
politisierten. Und er steht für die grosse
Fraktion derWestschweizer unter den
Grünen undGrünliberalen: Zehn Grüne
und drei Grünliberale unter den am
Sonntaggewählten Nationalräten stam-
men aus derRomandie. Sie erinnern
auch daran, dass die erste GrünePartei
in der Schweiz imJahr1971 in derWest-
schweiz gegründet wurde, dies von Geg-
nern einesAutobahnprojekts in Neuen-
burg.Ihr Name: Mouvement populaire
pour l’environnement (MPE) –Volks-
bewegung für den Umweltschutz.
Auch der erste Grüne,der in den
Nationalrat gewählt wurde, kam aus der
Romandie, konkret: aus derWaadt.Das
war1979. Es ist– Daniel Brélaz! Er ist
das grüne Urgestein der Schweiz und wo-
möglich auch weltweit. Er sei der erste
Grüne gewesen, heisst es zumindest bei
Wikipedia, der weltweit in ein nationales
Parlament gewähltworden sei.Hier sitzt
er, mit Unterbrüchen, noch immer.
Die grüne Neuenburger Ständerätin undJuristin CélineVara (mit Partner undTochter) hat nicht mit derWahl gerechnet. KEYSTONE
Der Präsident des Gewerbeverbands tritt ab
Jean-François Rimezieht die Konsequenzaus dem Wahldebakel
ANGELIKA HARDEGGER
Die einzige Überlebende ist eineFrau.
Daniela Schneeberger, Vizepräsidentin
des Schweizer Gewerbeverbands, hat
dieWiederwahl in den Nationalrat ge-
schafft. Anders dieKollegenin den füh-
rendenPositionen desVerbands:Vor-
standsmitglied Hansjörg Brunner wurde
abgewählt, ebenso Direktor Hans-Ul-
rich Bigler und auch PräsidentJean-
François Rime.Abgesehen von derVize-
präsidentin besteht die Spitze des Ge-
werbeverbands amTag nach denWah-
len nur noch aus Nichtparlamentariern.
Hans-Ulrich Bigler willtrotzdem Direk-
tor bleiben. Er hatte denVerband schon
geleitet, bevor er Nationalrat wurde.
Jean-François Rime wirddas Präsidium
auf dienächste Erneuerungswahl ab-
geben, wie er auf Anfrage mitteilt.
Tr otzWahldebakel: Der Gewerbe-
verband sieht kaum Anlass für Selbst-
kritik. Präsident Rime verweist auf die
grüneWelle. So laufe eseben in derPoli-
tik, sagt er. «Einmal gewinnt man. Ein-
mal verliert man.» Rimeräumt ein, er
habe persönlich zu wenigWahlkampf
betrieben. Aber mit derPolitik des Ge-
werbeverbands habe das schlechte Ab-
schneiden derParteispitze nichts zu tun.
Direktor Hans-Ulrich Bigler beurteilt
das ähnlich. «JedesResultat hat seine
eigeneGeschichte.Das darf man nicht
direkt mit dem Gewerbeverband inVer-
bindung bringen.»Von denVerbands-
kollegen sehen das nicht alle so.
«Ohrfeigefür denVerband»
Die Kritiker des Gewerbeverbands sind
zahlreich. Sie sehen sich amTag nach
denWahlen bestätigt. Alois Gmür, CVP-
Nationalrat und Mitglied der Gewerbe-
kammer, sagt: «Das ist eine Ohrfeige für
denVerband. Die haben völlig amVolk
vorbeipolitisiert.»
Tatsächlich sorgte der Gewerbe-
verband in jüngster Zeit wiederholt
fürKopfschütteln. Bigler kämpfte mit
derart vielVerve gegen die No-Billag-
Initiative, dass dieTwitter-Gemeinde
einen eigenen Hashtag für ihn kre-
ierte: «#Lügenbigler». Zuletzt irritierte
derVerband mit einem Manöver gegen
die Altersguillotine in seinen Statuten.
Deren Abschaffung sollte dem 69-jäh-
rigenJean-François Rime eine wei-
tere Amtszeit ermöglichen.Das Ge-
schäft hat derVerband auf den morgi-
gen Mittwoch traktandiert.
Für Alois Gmür ist es bezeichnend,
dass derVerbandsvorstand noch län-
gere Amtszeiten ermöglichen will. «Man
will sich einfach nicht bewegen»,sagt er.
Auch andere Mitglieder desVerbands
sehen in der anstehendenPersonal-
rochade eine Chance auf Erneuerung.
Diana Gutjahr ist Unternehmerin
und Nationalrätin derSVP.Sie spricht
von einem «heftigen Schlag» für den
Verband und sagt: «FrischerWind tut
gut.» Diana Gutjahr beobachtet, dass
Verbände grundsätzlich ein Problem mit
der Glaubwürdigkeit hätten – nicht nur
der Gewerbeverband.«Verbandsleute
sind zu oftFunktionäre», sagt sie. Die
Mitglieder fühlten sich deshalb nicht
mehr richtig vertreten.
Tatsächlich müssen nach demWahl-
tag auch andere Interessenverbände
Abwahlen verkraften, speziellauch die
Gewerkschaften. Bei der Unia wurde
Vorstandsmitglied CorradoPardiniab-
gewählt,beimDachverbandTr avail-
suisse verliert PräsidentAdrianWüth-
rich aus dem Kanton Bern sein Mandat.
SVPbeansprucht Präsidium
Beim Gewerbeverband stellt sich nun
dringend dieFrage, wer denn die Nach-
folgevonJean-François Rime antreten
soll. Ein ungeschriebenes Gesetz be-
sagt, dass das Amt von einemParla-
mentarier bekleidet werden muss. Ge-
nannt wird etwa die heutigeVizepräsi-
dentinDaniela Schneeberger. Doch die
Baselbieter FDP-Frau könnte an ihrer
Parteizugehörigkeitscheitern: Bleibt
der FDP-Politiker Bigler Direktor, be-
vorzugt derVerbandsvorstandeinen
Präsidenten oder eine Präsidentin aus
derSVP. AuchSVP-FraktionschefTho-
masAeschi ist überzeugt, dass dieSVP
das Präsidiumbehalten muss. Er sagt:
«Wir haben viele gute Kandidaten und
Kandidatinnen.»