Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 FEUILLETON 39


Goyas Hund


sieht den Dichter


WennMichael Krüger
indieWelt schaut,hört er Gedichte

ROMAN BUCHELI

Manche von Segantinis oder Hodlers
Bildern zeigen uns vertraute Landschaf-
ten , wie wir sie noch nie gesehen haben.
Das ist überdies eine Erfahrung, die sich
nichtverbraucht. Sooft wir vor den Bil-
dern stehen,wiederholt sich der Zauber.
Esist,als würden wir mit denAugen des
Künstlers sehen,der seinerseits mit dem
Pinsel eineWahrheit hinter der Oberflä-
che der Wirklichkeit geschaut hat.
Mit Dichtern ist es bisweilen ähnlich.
Sie sehen, indem sie schreiben.Wir se-
hen mit ihrenWorten hindurch in eine
Welt, die uns bekannt ist und die wir
dennoch so noch nie gesehen haben.Das
Schreiben ist darum immer auch eine
Sehschule – und das Lesen ist es nicht
weniger. Im Unterschied zu allen ande-
ren Schulen aber werden wir mit dieser
an kein Endekommen.DasAbenteuer
beginnt stets von neuem.
Michael Krüger gehört vermutlich
zu jenen Schriftstellern, die nie ohne
Stift und Notizbuch das Haus verlassen.
Denn gleichgültig, wohiner geht, ob er
zu Hause in München unterwegs ist, ob
er aus demFenster in den Garten schaut
oder ob er durch Berlin,Nantes oder die
Berge läuft,was ihn anrührt und bewegt,
muss er festhalten.Undhäufig wird
dann daraus ein Gedicht.
Selten ist es etwasWeltbewegendes,
eigentlich nie, einmal schaut er einer
Nacktschnecke zu und wundert sich,
was das doch für ein wunderlichesTier-
chen ist. AberindemKrügerMomente
festhält, werden sie zu etwasWeltbewe-
gendem. Etwa so, nämlich ganz schlicht:
«Die jungen Amseln / sprechen noch
Dialekt. / Sie vermissen die Zukunft
nicht, / den bösenTraum der Krähen.»
Michael Krüger ist viel unterwegs.
Was er in den letzten zweiJahren auf
seinenReisen ins Notizbuch geschrie-
ben hat,kehrt nun in einem Gedicht-
band wieder, der zweierleiFacetten
zeigt: Zum einen den neugierigen Blick
in eineWelt, die ihre grössten Myste-
rien in den kleinsten Dingen offenbart.
Hier ist das Kind im Mann amWerk,
der das Staunen nicht verlernt hat.
Zum anderen sehen wir in diesen Ge-
dichten den inzwischen 75-Jährigen, der
um das nahendeLebensende weiss und

sich auch mit solcherAussicht in heite-
rerGelassenheitzuüben versucht:«Wie
viele Schritte sind mir noch zugemessen
/imHimmlischenHauptbuch»,fragt er
in Madrid herausfordernd.
Und beim Blick hinaus in den hei-
mischen Garten hält er fest: «Und
bitte: keine Levkojen / auf meinem
Grab, überhauptkeine / Kreuzblüten-
gewächse, kein Grab, / die Birke hat
Asche nötig.»Das klingt lakonischer
und abgebrühter, als es gemeint ist.
Denn im Innersten istder Dichter nicht
nur hier, eigentlich immer, als Melan-
choliker unterwegs. Dass er im Madri-
der Prado als Erstes von Goyas Hund
begrüsst (und also erkannt) wird, will
vieles sagen.Vor allem jedoch dies: In
der leidenden Kreatur hat er sein eigent-
lichesWappentier gefunden.

Michael Krüger: Mein Europa. Gedich te aus
dem Tagebuch. Haymon, Innsbruck2019.
256S., Fr. 32.90. – Im Rahmen des Festivals
Zürich liest, da s heute Abend eröffnet wird,
liest Michael Krüger amFreitag in Begleit ung
des FlötistenJan Grimmaus seinen Gedic h-
ten.KryptaGrossmünster, 25.Oktober, 22Uhr.

TAG DES LESENS
Im Rahmen des Buchfestivals «Zürich
liest» lädt die NZZ zumLesetag.
In sechsVeranstaltungen diskutieren
unsereRedaktoren mitverschiedenen
Autoren – und über neue Bücher:
Das «LiterarischeTerzett» nimmt wich-
tige Neuerscheinungen in den Blick,
zu Gast ist der Literaturprofessor
PhilippTheisohn.
27.Oktober 2019, Kosmos Zürich
Programm undTickets:
nzz.ch/tagdeslesens

Die Ohnmächtigen und das Netz

Indem er die «fünfte Staatsgewalt» beherrscht, bootet Donald Tr ump Rivalen aus. Von Niall Ferguson


LetzteWoche ist etwasAussergewöhn-
liches passiert. Mark Zuckerberg hielt
eine Rede, mit der ich grösstenteils ein-
verstanden bin.Wer regelmässig liest,
was ich schreibe, wird wissen, dass ich
den Facebook-Chef oft kritisiert habe.
Mein Buch«Türme undPlätze» enthält
einige unfreundlicheWorte über sein
Unternehmen – und insbesondere über
dessenVerhalten während der schicksal-
haften US-Wahl von 2016.
Doch als der Mitbegründer vonFace-
book letzteWoche an der Georgetown
University inWashington sprach, nahm
er zumThema freie Meinungsäusse-
rung eine Haltung ein,die mich freudig
überrascht hat. «Jedem Einzelnen eine
Stimme zu geben», brachte er vor, «gibt
denMachtlosenMacht»,wohingegendie
«repressivsten Gesellschaften die freie
Rede stets am stärksten eingeschränkt
haben». Richtig.«EineZurücknahmeder
freienMeinungsäusserung...endeteoft
damit, dass die Ansichten von Minder-
heiten, die wir zu schützen suchen, be-
einträchtigt wurden.»Auch richtig.
Zudem erkannte Zuckerberg an,dass
das Internet den öffentlichenRaum
grundlegend verändert hat.Wir leben
nicht mehr in derWelt von Zeitungen,
Radio undFernsehen: «Dass Menschen
die Macht haben,sich ingrossem Mass-
stab zu äussern, ist eine neue Art von
Machtin d er Welt – eine fünfte Gewalt
neben den anderen Machtstrukturen der
Gesellschaft.»


Die alte und die neueMacht


Die Formulierung «fünfte Gewalt» ge-
fällt mir. Dabei bin ich arm dran: Ich
komme aus dem wenigen, was vom drit-
ten Stand übrig ist, und schreibe für die
vierte Gewalt. Ersterer – sagen wir: der
Mittelstand – wird zwischen dem plu-
tokratischen «einen Prozent» und den
populistischen Massen ausgehöhlt;Letz-
tere überlebt denVerlust vonWerbeein-
nahmen anFacebook (ganz zu schwei-
gen von Google) nur notdürftig. Es ist
also kein grossesWunder, dass ich ein
Kritiker Zuckerbergs war. Seine fünfte
Gewaltscheint es auf meine beiden Sei-
ten abgesehen zu haben.
Doch der dritte und wichtigste Punkt
seinerRede war eine pointierteVerteidi-
gung der freienRede. Facebook, meinte
er, «wird weiterhin für die freie Mei-


nungsäusserung einstehen – inKennt-
nis ihrer Unordnung, aber im Glauben,
dass die langeReise hin zu grösserem
Fortschritt widerstreitende Ideen erfor-
dert, die uns herausfordern».
Dassollnichtheissen,dasseinestrenge
Norm gemäss dem erstenVerfassungs-
zusatz anzuwenden ist – erinnern wir uns
daran,dassdiesernurdenStaatverpflich-
tet, dieRedefreiheit nicht einzuschrän-
ken –, sondern etwas, das sich eng daran
anlehnt. Soweit möglich, wirdFacebook
also keine terroristische Propaganda zu-
lassen,keine Kinderpornografie,keine
Aufforderung zu Gewalt,keine Falsch-
information, «dieunmittelbar physische
Verletzungen nach sich ziehenkönnte»,
und keine politischen Botschaftenvon
Bots , die sich als Amerikaner tarnen.
Andernfalls wird es im Hinblick auf die
freie Rede auf Abwege geraten.
Zu einer Zeit,in d er –nichtzuletzt in
Universitäten–immerlautereForderun-
genzuhörensind,sogenannteHassreden
zu verbieten, ist es sehr zu begrüssen,
dass Zuckerbergsich gegen die «immer
weiter ausgedehnte Definition, welche
ArtvonSpracheschädlichist»ausspricht
und dass er verspricht «darum zu kämp-
fen,dasseineweitestmöglicheDefinition
der freien Meinungsäusserung aufrecht-
erhalten wird». Keine Warnhinweise.
Keine geschütztenRäume.
Erfrischend ist auch, seine Bekräf-
ti gung derRedefreiheit in einer Zeit
zu hören, in der die chinesischeRegie-
rung dieVerknüpfung vonAutoritaris-
mus und Zensur so deutlich vorführt.Es
war leicht,die NationalBasketballAsso-
ciation dafür zu kritisieren, dass sie sich
so feige von dem Manager der Houston
Rockets distanziert hat – er hatte seine
Unterstützung für dieDemonstranten in
Hongkong geäussert. Denn das ist der
Pre is für Geschäfte in China.
LetzteWoche erhielt ich die chine-
sische Übersetzung von«Türme und
Plätze». Die Passagen über Chinas
soziale und politische Netzwerke fielen
durch ihreAbwesenheit auf. Entweder
spielst du nach denRegeln derKommu-
nistischenPartei, oder du verlässt den
chinesischen Markt.
Wie sehr man sich für dieRedefrei-
heit einsetzt,lässt sich daran messen,wie
weit man bereit ist, nicht nur Ansichten
zu tolerieren,mit denen man nicht über-
einstimmt –«Hassreden» –, sondern

auch Ansichten, die offen verlogen sind:
falscheRede. Letzten Monat enthüllte
Facebook eine neueRegelung, wonach
es dieAussagenvon Politikern nicht
moderiert oder ihre politischeWerbung
keinemFaktencheck unterzieht.
DiesePolitik wurderasch auf die
Probe gestellt, als Donald Trumps
Wahlkampfteam einWerbevideo von
30 Sekunden veröffentlichte, in dem
Joe Biden, dem ehemaligen US-Vize-
präsidenten, korrupte Praktiken in
der Ukraine vorgeworfen wurden. Als
BidensWahlkampfteamFacebook auf-
forderte, die Werbung abzuschalten,
weigerte sich das Unternehmen. Eli-
zabethWarren – BidensKonkurrentin
um die Nominierung durch die Demo-
kraten –konterte mit einer eigenen fal-
schenWerbeanzeige, in der behauptet
wurde, Zuckerberg undFacebook hät-
ten Trump unterstützt.

Trumps Offensive


Warren hatFacebook als «Maschine,
die um des Profits willen Desinforma-
tion liefert», bezeichnet.Sie hat verspro-
chen, den Konzern zu zerschlagen,sollte
sie zur Präsidentin gewählt werden.
Doch wie ihre europäischenKollegen
sieht sie nicht, dass sie, wenn sieFace-
book die Entscheidung überlässt,welche
politischeWerbung veröffentlicht wird
und welche nicht, dem Unternehmen
implizit weit mehr Macht einräumt, als
es selbst wünscht oder haben sollte.Wol-
len wir im Internet freie Meinungsäus-
serung mit all ihrer Gemeinheit? Oder
wol len wir Zensur, die historisch dazu
neigt, mit einer weit tieferreichenden
Gemeinheiteinherzugehen?Für mich
ist das leicht zu beantworten.
Allerdings trägt einFacebook mit
freier Meinungsäusserung ein Preis-
schild, das wir nicht ignorieren sollten.
Die Präsidentschaftswahl von 2020 wird
erst die dritteWahl, in der das Internet
das entscheidende Schlachtfeld gewesen
sein wird. Und das Internet wird 2020
eine grössereRolle spielen als 2016, als
es bedeutsamer war denn imJahr 2012.
In meiner vorigenKolumne habe ich


  • auf derBasis von Meinungsumfra-
    gen, aber auch vonVorhersagemärkten

  • geschrieben, dassWarren eine gute
    Chance habe, Präsidentin zu werden.In-
    zwischen meine ich aber, dass sie, wenn


man die sozialen Netzwerke einbezieht,
gegenTrump wahrscheinlich verlieren
wird. Und das gilt für jeden, den die
Demokraten vielleicht nominieren wer-
den. Das liegt daran, dass BradParsca-
les digitale Kampagne fürTrump schon
meilenweit voraus ist.
Laut Daten für das laufendeJahr bis
zum 19.September–letzteWoche von
der «NewYork Times» veröffentlicht


  • hat dasWahlkampfteamTrumps15,9
    Millionen Dollar fürWerbung aufFace-
    book und bei Google ausgegeben.Das
    ist mehr,als die drei Spitzenkandida-
    ten der Demokraten insgesamt inves-
    tiert haben.Während die Demokra-
    ten so altmodische Dinge wie Debatten
    im Kabelfernsehen veranstalten, füh-
    ren Parscale und seinTeam die mobilen
    Werbe-ID der gesamtenWählerschaft
    zusammen und gleichen Ortsdaten aus
    der Handynutzung mit anderen Infor-
    mationen ab, über die sie verfügen.
    InmeinemBuchmeinteich,Facebook

  • und nicht Russland – sei bei derWahl
    2016 der entscheidendeFaktor gewesen.
    Von Juni bis November 2016 gab Hillary
    ClintonsWahlkampfteam 28 Millionen
    Dollaraus und testete 66000 verschie-
    deneWerbeanzeigen.In enger Zusam-
    menarbeit mitFacebookgabenTrumps
    Leute fast das Doppelte aus (44 Millio-
    nenDollar)undtestetenfasthundertmal
    mehrWerbeanzeigen (5,9 Millionen).
    NächstesJahrwerdenFacebook–und
    Google – sogar eine noch grössereRolle
    spielen.EinePartei versteht das voll und
    ganz, und das sind nichtdie Demokra-
    ten .Zuckerberg hatrecht: Es ist nicht
    seineAufgabe, sich zwischenParscale
    und Facebook-Nutzer zu stellen. Doch
    wir sollten alle genau begreifen, was das
    bedeutet: Es bedeutet wahrscheinlich
    eine zweite Amtszeit fürTrump.
    Die fünfte Gewalt hat die Macht-
    losen in derTat ermächtigt.Aber nicht
    nur sie.


NiallFergusonist Senior Fellow am Zentrum
für europäische Studien in Harvard und forscht
gegenwärtig alsMilbank Family Senior Fellow
an der Hoover Inst itutio n in St anford, Kalifor-
nien. Der obenstehende Essay ist eine
Kolumne, die Fergusonfür die britische«Sun-
day Times» ve rfassthat – sie erscheint hier
exklusiv im deutschen Sprachrau m. Wir dan-
ken der «Sunday Times» für die Möglichkeit
des Wiederabdrucks.– Aus dem Englischen
überse tzt von Helmut Reuter.

Im Internet mag Chaos herrschen. Dafür habeninder Unordnungalle eineStimme. FRIEDEMANN VOGEL / EPA

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