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ENCORE
Hanna Stirnemann, porträtiert von Gabriele Münter im Jahr 1934
1944 aus ihrem Haus gewiesen. „Noch ist
nicht geklärt, was man mit uns vorhat“,
schreibt sie. „Ich bin so verzweifelt.“ Sie flie-
hen, ohne jeden Besitz, zunächst nach
Dresden und dann nach Berlin, wo Alfred
Wieruszowski im Febuar 1945 schließlich
einer schweren Krankheit erliegt. Wenige
Monate später stirbt auch sie.
Louise Straus hatte sich nach der geschei-
terten Ehe mit dem Surrealisten MaxErnst,
mit dem sie ein Kind hat, selbst untergrößter
Not durchzuschlagen gewusst. Anfang der
Dreißigerjahre ist sie längst eine derDreißigerjahre ist sie längst eine derDreißigerjahre ist sie längst eine der profilier profilier-
testen Journalistinnen der Weimarer Re-
publik – und wohl auch deshalb besonders
gefährdet. Schnell flieht Straus ins Exilnach
Frankreich, wo sie mehrere Jahre ausharrt.
„Ich habe Angst, seit Monaten schon, eine
ganz gemeine Angst. Verfolgt werdenist kein
Spaß. Und es wird immer schlimmerSpaß. Und es wird immer schlimmerSpaß. Und es wird immer schlimmer statt statt
besser. Wie wird es enden?“ Im Juni 1944
wird Straus mit einem der letzten Transporte
aus Frankreich in den Osten gebracht, wo
sie am 4. Juli in Auschwitz ankommt. Ihr ge-
naues Todesdatum ist nicht bekannt.
Zu denken, allein der Rassenwahn durch-
kreuzte das Werk und Leben dieser vier
Frauen, wäre zu kurz gegriffen. Mehr noch,
es schmälerte ihre Leistung. Lange bevor
die Nationalsozialisten die Macht ergreifen,
stemmten sich schon die Programme und
Haltungen dieser vier Frauen gegen den mod-
rigen Zeitgeist, den Revisionismus deutsch-
tümelnder Landschaftspinselei, gegen den
Kleinmut der Leinwände und die Enge des
Sichtfeldes – erst in Preußen, dann im aus-
glimmenden Weimar und schließlich sogar
noch im „Dritten Reich“. Hier sind vier –
vier Frauen zumal –, die dem Land das
Neue anreichen wollen, wie ein exotisches
Lebenselixier einem Kranken. Ein Viertel-
jahrhundert lang haben Frieda Fischer, Louise
Straus, Lilli Fischel und Hanna Stirnemann,
vielleicht ohne je voneinander zu wissen, ge-
meinsam an einer Geschichte geschrieben,
die einen wirklichen Anfang markierte und
deren Linien heute bis nach Dresden zu
Marion Ackermann reichen, auch bis nach
Stuttgart zu Ulrike Groos oder nach Düs-
seldorf zu Susanne Gaensheimer, und nicht
zuletzt bis nach Karlsruhe zu Pia Müller-
Tamm.
Nur zwei von diesen Ersten werden die
Kriegsjahre überleben und danach wieder
Fuß fassen. Lilli Fischel kehrt als Leiterin
des Kupferstichkabinetts an ihre alte Wirk-
stätte zurück und Hanna Stirnemann nimmt
zunächst in Thüringen die Arbeit wieder
auf, flieht dann aber nach West-Berlin, wo
sie als Geschäftsführerin des Deutschen
Werkbundes Berlin tätig ist und 1996 stirbt.
„Und wenn ich wieder zu einer Person
mit verdächtiger Gesinnung werden sollte“,
sagt Stirnemann einmal gegen Ende ihres
Lebens, „ich könnte noch heute meine Hand-
tasche nehmen und mich wieder aufma-
chen, ohne alles. Wissen Sie, nach so einem
Leben hat man überhaupt keine Lebens-
angst mehr und keinerlei Besitzverhältnisse
zur Welt.“
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