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APÉRO
STILL RUHT DER SEE
VON OBEN LINKS IM UHRZEIGER-
SINN: DER ALTE POSTKASTEN
AM S-BAHNHOF MEXIKOPLATZ,
DESSEN PRACHTVOLLER JUGEND-
STILBAU FAST SAKRAL DAHER-
KOMMT, IST EINE PREUSSISCHE
INSTITUTION. DER SCHLACHTEN-
SEE IST DIE ALTE HEIMAT VON
GÖTZ GEORGE UND WILLY BRANDT
UND LÄSST BRD-NOSTALGIE
AUFKOMMEN. DIE BUCHHANDLUNG
AM MEXIKOPLATZ LEBT VOM
EHRLICHEN CHARME DER
BESITZERINNEN
auf der David Kross sich dann durchboxen
musste. Mittlerweile sind die Mieten da
angeblich teurer als in Zehlendorf.
An einem Säulenbau in Joghurtrosa
wird die Schillerstraße zum Erdmann-Gra-
eser-Weg, der auf einer reizenden Brücke
über den Waldsee führt, der wiederum vor
gut 100 Jahren künstlich ausgehoben wurde
und heute einer sumpfigen Badewanne ohne
Stöpsel gleicht. Hübsch ist er dennoch. „Im
Sommer sitzen die Anwohner abends bis
unten am See“, erzählt Erik Günther, der
Pressereferent vom Haus am Waldsee, den
ich im Garten der Kunstvilla treffe. Gebaut
wurde das Haus 1922 für den Fabrikanten
Hermann Knobloch, einen Regenmantelher-
steller, der sich offensichtlich ein bisschen
englischen Landhausstil nach Zehlendorf
wünschte. Nach Pleite, Krieg und NS-Beset-
zung wurde der Bau ab 1946 dann als Aus-
stellungsort genutzt – und als Kulturamt, wo
Kunstschaffende ihre Essensmarken abholen
konnten. „In Mitte muss man immer sehen,
wie viel man schafft“, meint Günther. „Hier
kann man durchatmen.“ Was anscheinend
auch Tobias Rehberger so sah, der seine
aktuelle Soloschau im Haus am Waldsee und
nicht bei Neugerriemschneider umsetzte.
Drinnen schiebt sich eine Gruppe Senioren
durch die heitere Inszenierung, Notizblöcke
und Bleistift in der Hand, keine Telefone.
„Die Leute am Handy haben wir hier schon
auch. Aber eben nicht so viele.“
Rechts lang gehe ich dann zum Mexiko-
platz, der stilistisch der mondäne Bruder
des Viktoria-Luise-Platzes sein könnte. Viel
luftiger, aber auch viel leerer. Während in
Schöneberg die Wiesen dicht belegt sind,
verschnaufen die Zehlendorfer auch im
Sommer eigentlich nur in der Morgensonne
auf den Bänken um Brunnen und Rabatten.
Ansonsten juckeln sie weiter, vom Schreib-
warenladen zum Küchenbedarf oder aber in
die Buchhandlung in der Limastraße, deren
Besitzerinnen die etwas karge Ausstattung
mit Expertise ausgleichen: Ihr Programm
stellen sie nach einem (sehr persönlichen)
Geschmack zusammen, der bei den Anwoh-
nern gut ankommt. „Unsere Lieblingsbücher
verkaufen wir am besten“, meint Julia Stolte.
„Was ich nicht mag, kann ich auch nicht
glaubhaft rüberbringen.“
Auf dem Weg zurück zum Bahnhof
lohnt es sich, kurz stehenzubleiben und den
Jugendstilbau auf sich wirken zu lassen. Wie
sich das in Herbstrot gedeckte Dach um die
zart gesprossten Fenster schwingt, darüber
die mächtige Kuppel, die der Bahnstation
etwas nahezu Sakrales gibt. Und weil an
einen solchen Bau wohl einfach keine gum-
mistiefelgelbe DHL-Station passen mag, hat
die Lehrlingswerkstatt der Deutschen Post
ein Einzelstück maßgefertigt. Ein royalblauer
Briefkasten, wie er zur Zeit des Bahnhofs-
baus in Mode war. Der farblich mittlerweile
zwar mehr an Papa Schlumpf erinnert als an
Vater Staat, aber immer noch den Charme
früherer Zeiten evoziert. Da wär’s also wie-
der, das ewig Vergangene, das mal schick war,
das den Anschluss verpasst hat... Sollte je
eine Strandbar am Schlachtensee eröffnen:
Sie wird Caipirinhas anbieten, keinen Francia-
corta auf Eis, Cappuccino mit Kakaopulver-
topping servieren, keinen Cortado im Glas.
Aber warum eigentlich auch? Ein bisschen
oll darf’s hier schließlich sein.
TEXT: SALLY FULS
FOTOS: CHRISTIAN WERNER
ILLUSTRATION: CHARLOTTE CASSEL
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