Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

2 19./20. OKTOBER 2019


Völliglosgelöst


vonderErde


SamanthaCristoforettiistEuropasFrauimAll.200Tagelangwarsieaufder


InternationalenRaumstationundfanddenStartderRaketeehergemütlich


interview:AliceAhlers


Wiesind
Sieaufgewachsen?
In einem kleinen italieni-
schen Dorfind en Berg en. Als Kind habe ich viel im
WaldundamFlussgespielt.DieElternwarendamals
unbesorgteralsheute,sodassichdenganzenTagfrei
undunbeschwertind erNaturunterwegswar .Zusam-
menmitanderenKindernhabeich Abenteuererlebt,
ohnedassErwachsenedabeiwaren.

GlaubenSie,dashatSiesom utigundselbstbewusstge-
macht,Astronautinzuwerden?
Daskönntegutsein.Ichwarein Kind,dassehrviel
Vertrauen ins Leben und dieMenschen hatte.Das
kam vielleicht auch daher,dass ich in einem Dorf
wohnteunddortjedenBewohnerkannte.

HattenSieeinVorbild?
Heute spricht man viel überweibliche Vorbilder.
IchhabeaberalsKindniegedacht,dassichetwas,das
männlicheHeldenmachten,nichtauchalsMädchen
tun könnte.Ich habe da gar keinenUnterschied ge-
macht.

WiehabenSiedieerstenTageaufderRaumstationer-
lebt?
IchwaraufjedenFallnichtgleicheineAstro-Balle-
rina.Ichmussteerstlernen,michrichtigzubewegen.
Am Anfang passierteso ft, dass man sich ungewollt
überschlägt oder dieKontrolle über die eigenenBe-
wegungenverliert. Manmusssicherstdarangewöh-
nen,dassmanfüralles,wasmantut,sehrvielweniger
Kraftbraucht.Wennmansichganzzartabstößt,reicht
dasschon,umandieDeckezufliegen.

In derSchwerelosigkeitkannmandenRaumaufein-
mal in allen seinenDimensionen nutzen.Oben und
untengibtesnichtmehr.WiehabenSiedaserlebt?
IchhabeamAnfangimmermitdemKopfnachun-
ten an derDecke gegessen–einfach weil ich es
konnte.Ichfandescool.Nacheiner Weilehabeichal-
lerdings eingesehen, dass es schon praktischer ist,
dassalleindiegleicheRichtungschauen,wennman

nicht zu mei-
nemKörpergehö-
ren. Bleistifte und
Bücher mit den Ar-
beitsanweisungen flo-
gen herum.Mein Gehirn
waraberetwasverwirrtund
ich hatte das Gefühl, nach
vornezuf allen.

Wiegroßsind die körperlichenBelas-
tungenimAll?
An die Schwerelosigkeit habe ich mich
schnellgewöhnt.Miristeswichtig,nichtdieMy-
then und Legenden zu nähren, die esrund um die
Raumfahrtgibt. Viele Menschen haben so einBild,
dassAstronautenständiginderHumanzentrifugehe-
rumgeschleudertwerden und dass sie nur aufgrund
ihres hartenTrainings und ihrer außergewöhnlichen
körperlichenKonstitution den Härtetest imWeltall
bestehenkönnen.

Dasstimmtnicht?
Nein. In der Zentrifuge war ich zumBeispiel gar
nichtoft.UnddaseinzigewofürmanwirklichMuskel-
kraft braucht, sind dieWeltraumspaziergänge,weil
der spezielleRaumanzug, den man dabei trägt, so
schwer und steif ist.Dasist aber wirklich die einzige
Tätigkeit,fürdiemanstarkseinmuss.Fürallesandere
reichtesvölligaus,körperlichundpsychischgesund
zusein.

AufdemFlugimRaumschiffwirkenaberdochdurch
die großeBeschleunigungKräfte auf den Körper,die
nichtjederaufsichnehmenwollenwürde.
AlsobeimStartistder AufbauderBeschleunigung
ehergemütlich.

Gemütlich?SoeinRaketenstartsiehtvonaußenziem-
lichgewaltigaus.
Dieses Feuer um dieRakete ist fürZuschauer na-
türlichbeeindruckend.WennmanselbstinderRakete
sitzt,spürtmanden Startaberkaum.Wennmange-
nauhinschaut,siehtmanauch,dassdieRaketesehr
langsamstartet.Siewiegtjaauch300Tonnen.Erstda-
durch, dass sie so vielTreibstoff verbraucht, wirdsie
leichter und schneller.Sob aut sich dieBeschleuni-
gunglangsamauf.

WenneswiefürSieeinLebenstraumist,insAllzuf lie-
gen,lässtsichdaswahrscheinlichauchleichterertra-
gen.WanninIhremLebenhabenSiedaserste Malge-
dacht,dassSieAstronautinwerdenwollen?
SchonalskleinesMädchen.Ichhabesehrvielgele-
sen, vorallem Science-Fiction- undAbenteuerbü-
cher.Undichwareinriesiger„StarTrek“-Fan.Ichwar
alsKindauchschonsehrabenteuerlustig.Dannhabe
ich wohl einfach gedacht:Wasist das allergrößte
Abenteuer,dasein Menscherlebenkann?InsAllflie-
gennatürlich.

I


nihrererstenNachtimAllschliefsieschwerelos
schwebendmitdemKopfnachunten.„Insoe i-
nemSchlafsackwiediesemhier,habeichauch
gesteckt“, sagtSamanthaCristoforetti.DieIta-
lienerin,42Jahrealt,streichholzkurzeHaare,stehtvor
einerVitrine imFoyerdes EuropäischenRaumfahrt-
zentrumsinKöln.HinterGlashängtdietypischeBett-
wäsche,ind erdieAstronautenaufderInternationa-
len Raumstation (ISS) aufrecht in einer hohen,
schmalenKabine nächtigen, als würden sie in einer
Telefonzelle stehen.Siekönnen sich damit auch an
derWandfestschnallen,dochSamanthaCristoforetti
gefieles ,freischwebendzuschlafen.Wiesieesaller-
dings schaffte,sich in der erstenNacht in der engen
Koje mit demKopf nach unten zu drehen, ist ihr bis
heute ein Rätsel.In ihrem neuenBuch „Die lange
Reise“ erzählt die einzigeFrau im Astronautenkorps
derEuropäischenWeltraumorganisationESAvonih-
remgroßenTrauminsAllzufliegenundwieernach
vielenJahrenintensiverVorbereitungwahrwurde.

FrauCristoforetti,am23.November2014saßenSiein
Embryohaltung zusammengekauertine iner kleinen
Sojus-KapselundwartetenmitIhremamerikanischen
undrussischenAstronautenkollegendarauf,dasseine
Rakete SieinsWeltall schießt.Wasist Ihnen da durch
denKopfgegangen?
MeinBewusstseinwarvollundganzinderGegen-
wart. Nach mehr als fünfJahren Vorbereitungen, die
immeraufdieseseineZielausgerichtetwaren,gabes
indem AugenblickkeineVergangenheitundkeineZu-
kunft mehr.Das war der Ort, an dem ich in diesem
Momentseinsollte.

HattenSieauchAngst?
Ichhatte vorher eigentlich auch immer gedacht,
dassichkurzvordem StartzumindestetwasAnspan-
nung fühlen würde,dass ich mirGedanken machen
würde: Gehtdasjetztauchallesgut?Tatsächlichwar
ich aber ziemlich gelassen und völlig angstfrei.Ich
glaube,meineFreudewareinfachsoriesengroß,dass
garkein PlatzmehrfürSorgenwar.

WievielEinflusshattenSiealsAstronautininderRa-
kete,dassSieheilobenaufderISSankommen?
DieReise zur ISS dauertsechs Stunden undver-
läuftvollautomatisch.IndenerstenneunMinuten,in
denen dieRakete vonden Triebwerk en so starkbe-
schleunigt wird, dass sie in dieErdumlaufbahn ge-
langt,habenwirabsolutnullEinfluss.Wirhabennoch
nichteinmalInstrumente,dieunsanzeigen,oballes
funktioniert.Wirhören nur überFunk, ob diever-
schiedenenStufen gezündet haben.Später gibt es
aber einigePhasen, in denen wir schnell eingreifen
würden, um uns zuretten, wenn etwas nicht nach
Planläuft.

Siemüssenalsosehrkonzentriertbleiben,umprompt
reagieren zu können.Istesn icht schwierig, sachlich
undbeherrschtzubleiben,wennmangeradeetwasso
GroßeserlebtwieinsAllzuf liegen?
Ja,man dar fschon nicht zuromantischwerden.
Mirist das allerdings doch passiert.Beim Anflug auf
dieISSgibtesnureinenkurzenMoment,indemman
dieRaumstationeinpaarSekundendurchdasFenster
des Raumschiffes sehen kann–auch nur teilweise,
weil sie so riesig ist. Ichhabe rausgeguckt, mich ein
bisschenumgedrehtundaufeinmalwardadiesesgi-
gantischeSonnensegel,dasgeradevonderSonnean-
gestrahltwurde.Esl euchteteineinemwarmenoran-
genenLichtalsobesinFlammenstehenwürde.Das
fand ich so schön, dass ich gesagt habe: „Oh, mein
Gott!“ Mein Kollege neben mir hat mich sofortauf
Russischermahnt:„Seistill!Seistill!“

Dasdarfmannicht?
Nein,daswareigentlichkomplettunprofessionell.
DieBodenstationhatschließlichallesmitgehörtund
sich –wie ich später erfahren habe–ind iesem Mo-
menttatsächlichgefragt:Warumsagtsiedas?Wasist
daobenpassiert?Aberdahabensichbeimirwohldie
Emotionengelöst,diesichdenganzenTagangestaut
hatten.

WannhabenSiedieSchwerelosigkeitdasersteMalge-
spürt?
Manspürtsie das ersteMalnach neunMinuten,
wenn die dritteStufe der Rakete erloschen ist.Dann
ist man im Orbit.Ichwar ja festgeschnallt, aber auf
einmalschwebtenmeineArmevormiralswürdensie

IMAGO IMAGES

Zur Person


Samantha Cristoforetti,1977 in Mailand
geboren, studierte zunächst an derTechni-
schen Universität München Luft- und Raum-
fahrttechnik. Anschließend machte sie bei
der italienischen Luftwaffe eineAusbildung
zur Kampfpilotin. 2009 wurde sie unter mehr
als 8500 Bewerbernals ESA-Astronautin
ausgewählt. Sie ist die einzigeFrau im ESA-
Astronautenkorps, zu dem auch der deutsche
Astronaut Alexander Gerstgehört. Im Novem-
ber 2014 startete CristoforettivomWelt-
raumbahnhof Baikonur in Kasachstan zur In-
ternationalen Raumstation (ISS), nach 200
Tagenkehrte sie auf die Erde zurück. Ihre
Hobbys sind:Wandern, Lesen, Höhlentau-
chen,Yoga und Fremdsprachen lernen. Sie
beherrscht Italienisch, Englisch, Russisch,
Französisch und Deutsch, lernt außerdemge-
rade Chinesisch. Siewohnt in der Nähevon
Köln und hat eineTochter.

Ihr Buch„Die langeReise. Tagebuch einer
Astronautin“ stellt Cristoforetti am Dienstag,
den 22. Oktober 2019, um 19.30 Uhr im
Zeiss-Großplanetariumvor. Tickets: 16 Euro
im Vorverkauf, ermäßigt 12 Euro.
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