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DIE WELT DONNERSTAG,24.OKTOBER2019* FEUILLETON 25
DAS GANZE SEHEN MITDAS GANZE SEHEN MITDAS GANZE SEHEN MIT
ANZEIGE
M
it diesem Angriff hatte
der Rowohlt-Verlag be-
reits vor Erscheinen
des Bestsellers gerech-
net. Darum waren
Vorabexemplare des Buches „Tausend
Zeilen Lüge“ über den Fall des hochsta-
pelnden „Spiegel“-Reporters Claas Re-
lotius erst ganz kurz vor der Veröffent-
lichung verschickt worden, zum Bei-
spiel an Journalisten für Besprechungen
in Medien. Um jeden Preis wollte der
Verlag vermeiden, dass Relotius juri-
stisch gegen die Veröffentlichung vor-
geht, bevor das Buch überhaupt an die
Buchhandlungen ausgeliefert war.
VON CHRISTIAN MEIER
Nun ist der Erfahrungsbericht des
„Spiegel“-Mitarbeiters Juan Moreno,
der Claas Relotius als Fälscher fast im
Alleingang und gegen Widerstände ent-
larvte, eines der bestverkauften Sachbü-
cher dieses Herbstes. Und jetzt hat Re-
lotius, der sich bisher zu seinem Fall
nicht in der Öffentlichkeit geäußert hat,
den bekannten Medienanwalt Christian
Schertz verpflichtet. Er geht gegen das
Buch vor, verlangt von Verlag und Autor
eine Unterlassungserklärung bis Don-
nerstag um 12 Uhr und wirft Moreno
laut Berichterstattung der „Zeit“ vor,
„Tatsachen verdreht oder unzulässig ar-
rangiert zu haben“. Anwalt Schertz
spricht demnach von „erheblichen Un-
wahrheiten und Falschdarstellungen“
und listet 22 Textstellen auf. Gegenüber
WELT sagt Schertz auf Nachfrage: „Das
Buch von Juan Moreno gaukelt eine Re-
cherche vor, die es in einigen wichtigen
Punkten aber nicht gegeben hat.“
Relotius selbst ergreift gegenüber der
„Zeit“ erstmals das Wort, wirft Moreno
vor, eine Figur „konstruiert“ zu haben:
„Ohne mich persönlich zu kennen oder
mit Menschen aus meinem näheren
Umfeld gesprochen zu haben.“ Tatsäch-
lich kam Moreno dem Geschichtenfäl-
scher auf die Schliche, als er den Auftrag
vom „Spiegel“ bekam, gemeinsam mit
Relotius eine Geschichte zu schreiben –
und ihm dann der Teil der Geschichte
des Kollegen verdächtig vorkam. Er hat-
te damals, schreibt er in seinem Buch,
mehrfach Kontakt mit ihm, per Telefon
und E-Mail, begegnete ihm wohl auch
flüchtig persönlich, was Relotius aber
bestreitet. Und er recherchierte für sein
Buch in Relotius’ Umfeld – was nun das
„nähere Umfeld“ ist, von dem Relotius
schreibt, mag auch aus juristischer
Sicht Ermessenssache sein.
Wie auch immer: Der Meisterfälscher
sieht sich nun selbst als Opfer. Abstrus
auf der einen Seite, dass ein Mann, der in
fast 60 Texten, die er in seinen rund fünf
Jahren beim „Spiegel“ veröffentlichte,
erhebliche Teile erfand, manipulierte
oder eben auch konstruierte (darunter
ein Interview mit einer Holocaust-Über-
oder eben auch konstruierte (darunter
ein Interview mit einer Holocaust-Über-
oder eben auch konstruierte (darunter
lebenden, in dem Passagen offenbar er-
funden waren), eine Veranlassung sieht,
sich seinerseits über eine Darstellung zu
beschweren, die ihm konstruiert er-
scheint. Moreno beschreibt Relotius im
Buch als einen notorischen Lügner, der
in der Redaktion des „Spiegels“ zurück-
haltend, freundlich und höflich auftrat.
Auf der anderen Seite hat aber auch ein
Fälscher das Recht auf eine journali-
stisch einwandfreie Beschreibung seines
Falles und seiner Person. Persönlich-
keitsrechte sind universell. Fragt sich
nur, ob sich das Buch von Juan Moreno
zur Anklage wirklich eignet.
Medienanwalt Schertz sieht das so,
zuvor hatte Relotius übrigens eine
Hamburger Kanzlei mit seiner Vertre-
tung beauftragt. Zum besseren Ver-
ständnis eine der Textstellen, in der Re-
lotius und Schertz offenbar gleich zwei
„erhebliche Unwahrheiten“ gefunden
haben. Auf Seite 152 des Moreno-Buches
heißt es über Relotius beim „Spiegel“:
„Die Tür war stets zu, er war meist in
Lektüre vertieft, gleich neben ihm seine
Journalistenpreise.“ Nun heißt es sei-
tens der Kläger, die Tür sei eben nicht
immer geschlossen gewesen und die
Preise hätten auch nicht „neben“ Relo-
tius gestanden, hätten sich gar nicht im
Zimmer befunden. Auch die Anzahl der
an Relotius vergebenen Preise wird be-
anstandet, es seien nur 19 und nicht 40
gewesen. Die höhere Zahl hatte bereits
vor Moreno eine Untersuchungskom-
mission des „Spiegels“ verwendet, ge-
gen diese Darstellung hat Relotius aber
zumindest bisher nicht geklagt.
„Unserer Meinung nach handelt es
sich um den Versuch, mit Randfragen
und Nebenschauplätzen den Reporter
Moreno zu diskreditieren“, reagiert der
Rowohlt-Verlag auf die Unterlassungs-
forderung. Man habe den Fall einer An-
wältin übergeben. Moreno selbst äußer-
te sich zunächst nicht. In einem Punkt
ganz am Ende seines Buches geht es aus
juristischer Sicht etwas mehr an die
Substanz. Da schreibt Moreno, Relotius
habe gegenüber einem Kollegen be-
hauptet, in einer Klinik in Süddeutsch-
land in Behandlung zu sein. Am „fol-
genden Tag“ habe aber eine Sekretärin
des „Spiegels“ Relotius auf einem Fahr-
rad radelnd in Hamburg gesehen. Diese
Abschlusspointe des Buches habe, be-
hauptet Schertz, „nachweislich nicht
stattgefunden“.
Es wirkt ironisch, sogar zynisch,
wenn sich der Mann, der dem „Spiegel“
und dem deutschen Journalismus ins-
gesamt einen Glaubwürdigkeitsscha-
den größten Ausmaßes zugefügt hat,
sich nun via Anwalt zum Medienethi-
ker aufspielt (und die „Zeit“ in diesem
Fall mit einem Text freundlich sekun-
diert). „Morenos Buch müsste blüten-
weiß sein“, sagt Christian Schertz. „Ist
es aber nicht.“ Er habe persönlich mit
Zeugen gesprochen, „alle Punkte ge-
gengecheckt“. Und hier kommt, trotz
der bitteren Ironie, eine ebenso bittere
Wahrheit. Das Buch muss in der Tat
blütenweiß sein. Der Text darf
allerdings auch nicht ohne Fairness
und ohne Augenmaß kritisiert werden,
allein mit dem Ziel, das gesamte Buch
unglaubwürdig zu machen. Der Gedan-
ke, dass dies das Ziel sein könnte, liegt
zumindest nahe.
Die Gefahr des Vorgehens von Reloti-
us, mit dem Moreno für sein Buch nicht
sprechen konnte – er selbst attestiert
sich gegenüber der „Zeit“ einen „krank-
haften Realitätsverlust“: die Ungeheu-
erlichkeit seiner Fälschungen könnte
relativiert werden. Infolge dessen wäre
nicht nur der Fälscher schuldig gespro-
chen und verbrannt, sondern auch die
Person, die ihn als Lügner enttarnte.
Am Ende fragt sich das Publikum: Wem
sollen wir eigentlich überhaupt noch
glauben?
Hat den Medienanwalt Christian Schertz engagiert, um sich gegen ein Buch zu wehren: „Spiegel“-Fälscher Claas Relotius
PA/ DPA
/ URSULA DÜREN
Der Fälscher als Opfer
Claas Relotius geht gegen den Bestseller „Tausend Zeilen Lüge“
von Juan Moreno vor – das Buch enthalte Unwahrheiten über ihn.
Eine Geschichte von bitterer Ironie
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