Berliner Zeitung - 26.10.2019

(Ron) #1

2 26./27. OKTOBER 2019


S


einzweiterVornameistjaoffiziell
„Erfolgsregisseur“,MichaelHerbig
hatabernichtsdagegen,wennman
weiterhinbei„Bully“bleibt.Sowird
erseitderSchulegerufen,woerbevorzugt
einTrikotdesFCBayernspazierentrug,der
damals vomLastwagenherstellerMagirus-
Deutz gesponsertwurde und den Slogan
hatte:„DieBullenkommen.“
ErgenosseinebehüteteWest-Kindheitin
München,vonderDDRwussteernichts,au-
ßer dassMenschen „nicht nur ihr eigenes,
sondernauchdasLebenihrerKinderriskie-
ren“,umihrzuentfliehen.Sowiedie Fami-
lien Strelzyk undWetzel, die 1979 in einem
selbst genähtenHeißluftballon dieGrenze
vonThüringen nachBayern überquerten.
Undeigentlich,sagterbeimGesprächinsei-
nemBüroaufdem Bavaria-Film-Geländein
Geiselgasteig–eigentlich habe er „das an-
dereDeutschland“,die Menschen,die dort
lebten, und die Geschichten,die sie zu er-
zählenhaben,auchinalldenJahrendanach
nie kennengelernt –ehe er beschloss,die
Ballonfluchtzu verfilmen, und sich auf-
machte,dasverschwundeneLandaufzuspü-
renundzuerkunden.
Mitrund 800000 Zuschauernwar
„Ballon“einerdererfolgreichstendeutschen
FilmeimletztenJahr.Anlässlichdes30-jähri-
genMauerfalljubiläumskommteram4.No-
vembererneutinsKino.


Herr Herbig, Maxim Biller meinte einmal,
wenn man dem DrittenReich wenigstens
irgendetwasabgewinnen wolle, dann den
Umstand, dass es ein unerschöpflicherQuell
an dramatischenGeschichtenist. Lässt sich
dasauchüberdieDDRsosagen?
ObwohlichmichsehrlangemitderDDR
beschäftigthabe,kenneichsienochimmer
sehr wenig. Nicht dass ich es bedaure, dass
mirdadiepersönlichenErfahrungenfehlen.
Ichhabe hauptsächlichzugehörtund mir
vonLebenswegen und Konfliktenerzählen
lassen,undichhabeversucht,dieMenschen
zuverstehen,vonallenSeitenübrigens,also
man ergreift da keine Partei, sondernver-
sucht zu verstehen,warum Menschen so
handeln,wie sie handeln.Tatsächlichhabe
ichimLaufederZeitsovielesounglaubliche
Geschichtengehört, dass man Ihre Frage
wohlmitJabeantwortenkann.


HatSieanderberühmtenBallonfluchtiners-
terLiniedieabenteuerlicheGeschichteinter-
essiertoder auch dieses rätselhafte ver-
schwundeneLand?
Vonallem so ein bisschen.Dassoll jetzt
nichtzynischklingen,abernatürlichsuchst
du als Filmemacherimmer nach einem gu-
ten Stoff –und zwar möglichsteiner Ge-
schichte,die man auf der großen Leinwand
zeigenkann.UndindiesemFallwareseben
so,dassichdieDDRzwarnichtausnächster
Näheerlebthabe,aberindieserZeitaufder
anderenSeitemeineJugendverbrachthabe;
ichbinjaderselbeJahrgangwiederFitscher,
also der jüngereSohn derStrelzyks.Ich war
elfdamals,undichkonntedasgarnichtbe-
greifen, als ich davon in denNachrichten
hörte .Daw aren alsoDeutsche,die vonei-
nemTeilDeutschlandsindenanderengeflo-
hensind,ichhabedasnichtverstanden.


WurdedarüberinderSchulegesprochen?
Nein.WirhatteneinegroßeLandkarteim
Klassenzimmerhängen,dawarlinksdieBRD
und rechts,etwas kleiner,die DDR, und ir-
gendworechts oben noch diese kleineInsel
West-Berlin.Ichhabe mich oft gefragt, was
sich dahinter verbarg, warum es zwei
Deutschlandsgab,aberdaswarebenso.Ge-
schichte,das waren die Römer,das Mittelal-
ter.Die jüngereGeschichte war nicht so das
Thema.DabeihättendieLehrerdamalsnoch
aus eigener Erfahrung erzählen können,
manche wuchsen während derNachkriegs-
zeitaufundhattendieGründungderbeiden
deutschenStaatenunddas,wasdazuführte,
miterlebt.DiedeutscheTeilungwar1979,als
den Familien Strelzyk undWetzel die Flucht
mitihremBallonüberdieGrenzegelang,ge-
nausolangherwieheutederMauerfall.


HattenSiealsJungedennirgendeineVorstel-
lungvonderDDR?
Wirhatten keinerlei persönlichenBezug
dazu, keineVerwandten, keineBekannten.
Vondaher hatte ich wirklich keineIdee da-
von,wiedasLebenimanderenDeutschland
sein mochte.Aber ich habe es mich immer
gefragt,auchspäteralsTeenager,alsichbe-
gann,diepolitischeDimensionzubegreifen:
Wiedie Millionen Menschen dortdrüben
wohllebenmögen,wassiedorttunundwo-
vonsieträumen?


EinigeganzoffensichtlichvonderFreiheit.
Als ich14war,kamdie Disneyverfilmung
der Ballonflucht insKino: „Mit demWind
nach Westen“, hieß sie,imO riginal „Night
Crossing“.Undklar,daw ardieserwaghalsige„Wie die Millionen Menschen drüben wohl leben mögen,wassie dorttun und wovon sie träumen?“ Bully Herbig am Set von „Ballon“. STUDIOCANAL/MARCO NAGEL


DieDDR?


Fürjunge


Menschen


fühltsichdas


heuteanwie


Science-Fiction


Nochimmeristdie


deutscheErzählungeine


prinzipiellwestdeutsche,findet


Michael„Bully“Herbig.Zum


30-jährigenMauerfalljubiläum


kommtseinFluchtdrama


„Ballon“wiederinsKino


Interview: Christian Seidl

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