Politik
4 * Berliner Zeitung·Nummer 249·26./27. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
NACHRICHTEN
Drogenbeauftragte lehnt
Freigabe von Heroin ab
DieDrogenbeauftragtederBundes-
regierung,DanielaLudwig(CSU),
hatsichstriktgegendenVorschlag
derBerlinerGrünen-PolitikerinCa-
therinaPierothausgesprochen,
auchbeihartenDrogendenBesitz
kleinererMengenzumEigenbedarf
zuerlauben.„Eigenbedarfbeiharten
Drogenstehtfürmichabsolutnicht
zurDebatte“,sagteLudwig.„Wirre-
denhiervonDrogen,dieschonbei
einmaligemGebrauchzumTodfüh-
renkönnen“,ergänztesie.„Daherist
dieserVorschlagunsinnigundwürde
amZiel,suchtkrankenMenschenzu
helfenunddenDrogenhandelein-
zudämmen,komplettvorbeigehen.“
Pieroth,diedrogenpolitischeSpre-
cherinderBerlinerGrünenist,hatte
vorg eschlagen,dieGrenzefürden
erlaubtenEigenbedarfbeiKokain
oderHeroinbeidreiGrammfestzu-
legen.(tms.)
KZ-Wachmann berichtet
überVorfälle in Stutthof
WährendseinerDienstzeitimKZ
StutthofbeiDanzighatderinHam-
burgvorGerichtstehendeehema-
ligeSS-Wachmanneinmalbeobach-
tet,wie GefangeneindieGaskam-
mergeführtwurden. AufdieFrage
derVorsitzendenRichterinAnne
Meier-Göring,wasergenauvom
Wachturmausgesehenhabe,sagte
derAngeklagteamFreitag:„Dassda
Leutereingeführtwurden,indie
Gaskammer,dassdieTürverschlos-
senwurde.“Kurzdanachhabeer
SchreieundPolterngehört.„Ich
wusstenicht,dassdiedavergast
wurden“,betonteder93-Jährige.Die
AnklagewirftihmBeihilfezumMord
in 5230 Fällenvor.(dpa)
Attentat in Münchner OEZ
warpolitische Gewalttat
MehralsdreiJahrenachdentödli-
chenSchüssenamOlympia-Ein-
kaufszentruminMünchenhatdas
BayerischeLandeskriminalamtdie
Tatalspolitischmotivierteingestuft.
BeiderBewertungdürfedierechts-
radikaleundrassistischeGesinnung
desTätersnichtvernachlässigtwer-
den,teiltedasLKAamFreitagmit.
Am22. Juli2016hatteder18-jährige
DavidS.neunMenschenundsich
selbsterschossen.Esgabmehrere
Verletzte.DiemeistenderTodesop-
ferwarenjungundhatteneinenMi-
grationshintergrund.(dpa)
WeitereFestnahmen nach
Fund von 39 Leichen in Lkw
Forensiker der britischenPolizei untersu-
chen den Lkw. AFP
BeidenMordermittlungenzum
Fundvon39L eichenineinemSat-
telaufliegerbeiLondonhatdiebriti-
schePolizeiam Freitagzweiweitere
Menschenfestgenommen.Beiih-
nenhandeleessichumeinen
JahrealtenMannundeineFrau
gleichenAlters.IhnenwürdenMen-
schenhandelin39FällensowieTot-
schlagin39Fällenvorg eworfen,
teiltediePolizeiam Freitagmit.
Derbereitszuvorfestgenommene,
inNordirlandwohnhafteFahrer
desLastwagens,ind emdieLei-
chengefundenwordenwaren,
steheweiterunterMordverdacht
undbleibeinHaft,teiltediePolizei
weitermit.(dpa)
EineStunde
mehrfürs
Wochenende
InderNachtzuSonntag
werdendieUhrenumgestellt
I
nder Nacht zumSonntag wird
wiedereinmalanderUhrgedreht:
Um drei Uhrmorgens werden die
Uhrenume ineStundevonderSom-
merzeit auf die Mitteleuropäische
Zeit (MEZ) zurückgestellt. Viele
Menschen habenvondem Hinund
Herabergenugundbefürwortenein
Endeder Zeitumstellung.
Zeitumstellungbei denmeistenDeut-
schenunbeliebt:Dass der Sonntag
mit der Zeitumstellungeine Stunde
länger ist, dürfte die meistenMen-
schen zwar kaum stören. Allerdings
ist die Umstellung aufSommerzeit
im Frühjahr und aufNormalzeit im
Herbst zunehmend unbeliebt, wie
regelmäßigeUmfragen zeigen.Inei-
nerForsa-UmfragefürdieKranken-
kasse DAK-Gesundheit befürworte-
ten 79 Proz ent die Abschaffung der
Zeitumstellung.MehralsdreiViertel
derBefragtenfühlensichmüdeoder
schlapp,fastzwei DrittelhabenPro-
bleme mit demEin- oderDurch-
schlafen.
Energieeffekt umstritten:Kritikerder
Zeitumstellung führen neben den
gesundheitlichen Belastungen ins
Feld, dass diese ihren ursprüngli-
chen Zweck nicht erfüllt.Eigentlich
sollte das Vorstellen der Uhrim
Frühjahr zumEnergiesparen in der
hellen Jahres zeit beitragen.Die
Überlegung:Wenn sich derTagum
eine Stunde nachvorn verschiebt,
wirdwenigerBeleuchtungundda-
mitwenigerStromverbraucht.Doch
dadurchentstehendeEnergiesparef-
fektesindkaumnachweisbar.
EU-Regelung soll fallen–aberwann?
GrundlagefürdieZeitumstellungist
eineEU-weiteRegelung,wonachdie
MESZ in allenMitgliedsstaaten je-
weils am letztenSonntag im März
beginnt und am letztenSonntag im
Oktober endet.Deutsc hland führte
dieRegelung1980ein.DieEU-Kom-
missionwilldieZeitumstellungnun
wieder abschaffen.Ursprünglich vi-
siertesiediesbereitsfür2019an.Je-
des Land hätte demnach für sich
entscheiden sollen, ob es dauerhaft
die Normal- oderSommerzeit ein-
führt. DasEU-Parlament unter-
stützte diesenVorschlag grundsätz-
lichundsprachsichimMärzfürein
Ende de rZeitumstellung ab 2021
aus.Esh apertaberanA bsprachen
der Mitgliedsländer,umzuverhin-
dern, dass ei nFlickenteppichver-
schiedenerZeitzonenentsteht.
Technische Umsetzung: Rein tech-
nisch is tdie Umstel lung unproble-
matisch.TaktgeberfürdieZeitsindin
Deutsc hlanddieAtomuh renderPhy-
sikalisch- TechnischenBundesanstalt
in Braunschweig. ÜberSender wer-
dendie Signaleübertragen,durchdie
sich dieFunkuhren automatisch an
die Zeitumstellung anpassen.Auch
fürdie Deutsc heBahnistdieZeitum-
stellung längstRoutine. Züge halten
am Sonntag in der um eineStunde
längerenNacht an einemBahnhof,
um morgens nicht eineStunde zu
früh anzukommen. S-Bahnen mit
Abfahrtzeitenzwischenzweiunddrei
Uhrmüssendagegenzweimalabfah-
ren–vor und nach derUmstellung.
Dafür werden mehr Bahnen und
mehrPersonalgebraucht.(AFP)
Hier sehen Sie die ganz herkömmliche
Methode, die Uhr umzustellen. GETTY
EineVierer-KoalitionfürdenFreistaat?
Thüringenwählt.DieRegierungsbildungwirdschwierig.DashatauchmitAfD-KandidatHöckezutun
VonJan Sternberg
D
er Kandidat wirkt ange-
griffen. Zwei Reden pro
Taghält Björ nHöcke
täglich im Wahlkampf,
mehrmals besucht der AfD-Landes-
chefjedeStadtinThüringen.In Go-
tha aber erreicht der 47-Jährige die
Grenzeseiner Leistungsfähigkeit:
„Meine Stimme ist etwas angegrif-
fen,ichmussmichüberdieZeitret-
ten“, sagt er nach einer halben
StundeamRednerpult.DenRestsei-
ner Wahlkampf-Ansprache skizziert
er nur noch: „Wir wollen eineAb-
schiebeinitiative2020 und Ab-
schiebeflügevomFlughafenErfurt,
umdiesenbesserauszulasten.“Zum
Schlussfolgtnocheinesseinerliebs-
tenSprachbilder,daserseitderum-
strittenenDresdner Rede im Januar
2017verwendet:„DieAltparteienlö-
senunserliebesdeutschesVaterland
auf wie einStück Seife unter einem
lauwarmenWasserstrahl.“
DerApplaus seiner gut 100Fans
auf demNeumarkt ist ihm sicher.
„Wir wollen in Thüringen nicht die
ZuständeWestdeutschlandshaben“,
ruft der ausHessen übergesiedelte
Ex-Gymnasiallehrer.Höcke bleibt
noch für ein paarSelfies,dann geht
er schnellen Schritts zur wartenden
Limousine.Der nächsteAuftritt im
heimatlichenEichsfeldwartet.
DieAfD-Fans zerstreuensich,die
gut 80 Gegendemonstranten ziehen
mit ihremPlakat„Wer Höcke wählt,
wählt Faschisten“ noch eineRunde
durch dasZentrum der 45000-Ein-
wohner-Stadt. DerAfD-Spitzen-
mannhatessichzurGewohnheitge-
macht,zuBeginnderRedeerstein-
mal die Gegendemonstranten fron-
tal anzugehen.„DasEinzige,was es
unter einer AfD-Regierung noch für
Linksextremistengibt,istRitalinauf
Rezept“,ätzter.
Doch zu einer AfD-Regierungs-
verantwortungwirdesi nThüringen
nicht kommen–und das liegt nicht
zuletzt an Höcke.CDU-Spitzenkan-
didatMikeMohringwürdefastalles
tun, um den linkenMinisterpräsi-
denten Bodo Ramelowabzulösen –
aber eben nur fast alles.„Ichfinde:
Höcke ist einNazi“, sagteMohring
bei einerDiskussionsrunde der taz.
DerAfD-Spitzenkandidat präge
diese Partei und sorge mit der AfD-
Gruppierung „Flügel“ dafür,dass
sich die AfD nachrechts radikali-
siere. „Mit denenwerden wir nicht
zusammenarbeiten.“
Ramelowhofft.Mohringauch
Damit aber könnte Thüringen das
erste Bundesland sein, in dem auch
eineDreier-KoalitionkeineMehrheit
imLandtagzusammenbringt.Rame-
lowregiertseit2014ineinemBündnis
mit SPD undGrünen und nur einer
StimmeMehrheit. ErliegtindenUm-
fragen mit 28 bis 29Proz entvorne.
CDU und AfD folgen mit jeweils un-
gefähr einemVierte lder Stimmen.
Für die Sozialdemokraten könnte es
erneuteinbittererWahlsonntagwer-
den.SielandenindenUmfragender-
zeit bei neunProz ent. DieGrünen
können diesesMalmit einem siche-
renEinzuginsParlamentrechnen.Sie
komm enaufsiebenProz ent.Fraglich
istder WiedereinzugfürdieFDP.Die
Wahlforscher sehen die Liberalen
derzeitbeivierbisfünfProz ent.
MinisterpräsidentRamelowhofft
aufeine Fortführungderrot-rot-grü-
nenKoalition,ebensowiedieJunior-
partner vonSPD undGrünen. Ein
solches Bündnis würde lautUmfra-
gen allerInstitute eineMehrheit je-
dochverfehlen.
Mohring müsste für eineRegie-
rungsoptionaufdenEinzugderFDP
undein Vierer-BündnismitGrünen,
Sozialdemokraten und Liberalen
hoffen.DochselbstwenndieFDPin
den Thüringer Landtag einziehen
sollte,isteine Mehrheitungewiss.
(mitmsa.)
JanSternberg
beobachtet, dass Höcke
seinen Nimbusverliert.
Umfrage zur Landtagswahl in Thüringen
SPD CDU GRÜNE LINKE FDP AFD
12,
33,
26,
7,0 5,
28,028,
5,
2,
21,
9,0 10,
im Vergleich Ergebnis 2014
BLZ/GALANTY; QUELLE: ZDF-POLITBAROMETER
Bisbald
inBerlin
LiebeYael,
ich stieg gerade am Schlesischen
Torins Taxi, als imRadio die Mel-
dung lief, dassNetanjahu es wieder
nicht schafft, eineRegierung zu bil-
den.„KönnenSievielleichteinbiss-
chenlautermachen?“,fragteichden
Taxifahrer .Erh atte rötlicheHaare,
einen Hipster-Bartund sprach die
Zischlaute aus wie türkischeBerli-
ner.Erd rehteden Tonlauterundsah
dannneugierigzumirnachhinten.
KommenSieausIsrael?,fragteer.
Nee,ausBerlin,aberichlebegerade
inTelAviv.UndSie?
Kreuzberg, sagte er.InIsrael war
ich noch nie.Nicht ungefährlich da,
oder?
Geht so ,sagte ich und fragte
mich,wiedasGesprächweitergehen
würde ,inw elche Richtung.Gesprä-
che überIsrael gehen fast immer in
eine Richtung,vorallem mitMen-
schen, die noch nie da waren.
Manchmal dauertese ine Minute,
manchmaleinehalbeStunde,bisdie
Richtung klar ist.Manchmalwette
ich, während ich zuhöre, mit mir
selbst:Dafüroderdagegen?Manch-
mallasseichmichaufDiskussionen
ein und bin amEnde sicher,einer
SeiteUnrechtgetanzuhaben.
„Ani jodaat klum“ ist mein Lieb-
lingssatz imHebräischen.Ichweiß
gar nichts.Jem ehr ich lerne,desto
schwerer fällt es mir,mich auf eine
Seitezuschlagen,destomehrdenke
ich immer schon dieGegenargu-
mente mit, fühle mich wie in einer
Endlosschleife,wie ein Hamster im
Rad.IchlebeseitknappzweiJahren
in Israel, und ich habe dasGefühl,
dass alles,was ich schon einmal er-
lebt habe,immer wieder passiert.
Berlin–Tel Aviv
Wahlen, Neuwahlen, Messeratta-
cken, Raketenangriffe,Siedlungs-
bau, Unruhen amTempelberg.Ich
glaube,ichkönntefünfoderzwanzig
JahrealteNachrichtenindieZeitung
schreiben, und niemand würde es
merken.Auch die Reaktionen sind
so: „LiebeFrau Reich“, schrieb mir
ein Leser,„bitte nehmenSieesm ir
nichtübel,wennich Siedaraufhin-
weise,dassesinEuropaviel weniger
Antisemitismus geben würde,wenn
dieMedienindenletztenJahrzehn-
ten wahrheitsgetreu über denNah-
ostkonfliktberichtethätten.“Waser
mit wahrheitsgetreu meint, schrieb
ernicht.
wirdas Navitrotzdeman,fahrenlos,
kommen manchmal an derGrenze
an und manchmal an einerCoca-
Cola-Fabrik.
EinBekannter,dersichauchdau-
ernd verfährt,hatdieTheorieentwi-
ckelt, dass das israelischeNavigati-
onssystem vomMossad gesteuert
wird, und Alex und ich fragen uns
nun, warum zweiOstdeutsche,die
mit israelischem Kennzeichen in
denpalästinensischenGebietenun-
terwegs sind, immer beiCoca-Cola
landen.WasunserAuftragist.
DiesmalsahenwirdierotenLich-
terschonvonWeitem.„Nein!“,sagte
ich.„Mist“,sagteAlex.Eswarstock-
duster,die Fabrik einGeisterhaus.
Undirgendwie wunderte ich mich
nicht, als sich aus derDunkelheit
vonhinten Autos mit Blaulicht nä-
herten,alsausdenAutosgeschossen
wurde ,direkt neben uns.Ich
rutschte denSitz hinunter,zog den
Kopf ein und wartete auf dieKugel,
die mich treffen würde.Nach ein
paar Sekunden, die sich wie eine
Ewigkeit anfühlten, sagte Alex:
Kannstwiederhochkommen,istnur
’nearabischeHochzeit.
Wirirrten dann noch eineWeile
durchs Land. Angst hatte ich keine
mehr,nur Hunger undDurst –und
Sehnsucht nach zuHause.Woim-
merdasist.
Lehitraot,liebeYael.
Bisbaldin Berlin.
DeineAnja
Buch premiere.Anja Reich undYael Nachshonle-
sen am 27.11. und 28.11. um 20 Uhrbei Litera-
tur LIVEimPfefferberg Theater.Karten-Telefon:
030 93 93 58 555,www.literatur-live-berlin.de
Ichsehne mich nach einfachen
Wahrheiten,aberzumeinerWahrheit
gehört,dassichmeistgeradedieSeite
verstehe,derichzuhöre. Sagtmirje-
mand, imWestjordanland ist es ge-
fährlich,verriegeleichdieAutotüren.
Sagt mir ein anderer,Unsinn, da
brauchst du keine Angst zu haben,
kurbeleichdieFensterrunterundlä-
cheledieLeutean.Alsichneulichmit
Alex in Ramallah war,verfuhren wir
uns.Auchdasistnichtneu.DieNavi-
gationssysteme funktionieren im
Westjordanlandnicht,dasInternetist
eineKatast rophe.Weilwiraberhoff-
nungslos technikhörig sind und uns
imAutonichtgernestreiten,machen
AmSonntagsindin Thüringenrund 1,73MillionenBürgerwahlberechtigt,davon75 000Erstwähler. IMAGOIMAGES
Anja Reich