PLATZ DER REPUBLIK
Linksund
frei
VonHolger Schmale
besucht eineAusstellung mit Aktualität.
E
sist viel vonWilly Brandt die
Rede dieserTage.Das liegt ein-
mal an einem historischenDatum,
vor50J ahren wurde er zum ersten
Malzum Bundeskanzler gewählt.
AberdassdieserSozialdemokratbis
heute so eineFaszination ausübt,
hatnichtnurmitGeschichtezutun.
EsistdieWeitsichtunddieAktualität
vielerseinerAussagen,dieihmsoein
politischesGewicht verleihen.Das
machte auchBundestagspräsident
WolfgangSchäubledeutlich,deram
Dienstag im Paul-Löbe-Haus des
Bundestages eine Wanderausstel-
lung überBrandtsWirken als„Frei-
heitskämpfer,Friedenskanzler,Brü-
ckenbauer“eröffnete.
Ererinnertenichtnurdaran,dass
BrandtdieThemenderGrünen,den
Umweltschutz,langevorallenande-
renPolitikernder etabliertenPar-
teienerkannteundernstnahm.Wer
weiß,spekulierteSchäubleeinwenig
genüsslich, ob die Parteienland-
schaft heute nicht ganz anders aus-
sähe,wenn Brandt längerKanzler
gewesen wäre. Er ve rwies auch dar-
auf, dassWilly Brandt sich nicht
ohne Grund gegen denBegriff Wie-
dervereinigung gewandt habe.So
habe er auf einerKundgebung 1989
inRostockwiebeianderenGelegen-
heitengemahnt,dassesnichtdarum
gehe,etwasVergangeneswiederher-
zustellen, sonderndie Menschen
aus beiden deutschenStaaten soll-
ten „etwasNeues schaffen, imRe-
spekt voreinander“. Brandt habe
kaumahnenkönnen,welcheBedeu-
tung diese Überlegung noch heute,
30Jahrespäterhabenwürde.
Während der Christdemokrat
Schäuble aus historischerDistanz
undmitfürseineParteinichtselbst-
verständlicher Hochachtung über
den erstenKanzler der SPD sprach,
war der zweite Redner Wolfgang
Thierse alsSozialdemokrat deutlich
involvierter.Schließlich durchlebt
seine Partei eine existenzielle Krise,
in der dasVorbild Brandt geradezu
übermächtig wirkt.„Erwirdirgend-
wie immer größer“, sagte Thierse.
Viele gedächten seiner in einer Art
„pathetischerSentimentalität“.Da-
beizeigtedie EinspielungeinesAus-
schnitts aus Brandts ersterRegie-
rungserklärung vom28. Oktober
1969,wiemodernseinPolitikansatz
war.Eru ntermauerte sein berühm-
tes Versprechen „Wir wollen mehr
Demokratie wagen“ ja mit dem An-
gebotzueinerbreitenBürgerbeteili-
gung.„JederBürgersolldieGelegen-
heit erhalten, an derReformvon
Staat und Gesellschaft mitzuwir-
ken“,sagteBrandtvordemBundes-
tag. Er sprach davon, die Arbeits-
weise der Regierung zu öffnen und
Mitbestimmung sowie Mitverant-
wortung zur bewegenden Kraft der
kommendenJahrezum achen. Die
sensationelle Wahlbeteiligung von
91 Proz ent zeigte dreiJahrespäter,
wie gut das demokratische Mit-
machprogrammWillyBrandtsfunk-
tionierte.
Wolfgang Thierse erlaubte sich
dann noch eineKorrektur Schäub-
les.Der hatte gesagt,Brandts Le-
bensmotto sei „links,aber frei“ ge-
wesen. Nein, sagte Thierse.Ess ei
„linksundfrei“gewesen.„Einfeiner,
aber wichtiger Unterschied.“Dar-
über fr euten sich besonders die
FraktionschefsvonSPDundLinken,
Rolf Mützenich und Dietmar
Bartsch,dieeinträchtignebeneinan-
derindererstenReihesaßen.
DieGetrennten
Dietmar Bartsch/SahraWagenknecht
DiePragmatischen
Annalena Baerbock/RobertHabeck
DieÜberraschenden
Gesine Schwan/Ralf Stegner
Hauptstadt
6 * Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
AFP (2), DPA (4)
D
iebeidensindsoetwaswiedasÜberraschungspaar
der SPD .Als sie ihregemeinsameKandidatur be-
kanntgaben, wurde noch kräftig gelästert–vor allem
überihrAlter.Schwanist76Jahrealt,StegnerhatAnfang
desMonatsseinen60.Geburtstaggefeiert.ObdieKandi-
daten zusammen nun das Alter derSozialdemokrati-
schen Partei erreichen müssten, fragte einTwitter-User
hämisch.StegnerundSchwannahmenessportlich.„Ich
hatte am Anfang ja auch gedacht, dass ich eher einen
jungen Spund an meinerSeite brauche“, sagtGesine
Schwan und lacht.DieIdee,sich zusammenzutun, sei
vonStegner gekommen. „Wir passen gut zusammen“,
sagter .DassehenoffenbarauchvieleanderBasisso .Auf
insgesamt 23 Regionalkonferenzen in allen Teilen
DeutschlandshabensichdieverbliebenensechsKandi-
datenduosderBasisvorg estellt,SchwanundStegnerha-
ben dabei mehr als einmal denSaal gerockt.„Dass der
RalfHumorhat,habenvieleamAnfangjagarnichtge-
glaubt“,sagtSchwan.Siefindet,dasssieundStegnerden
gleichen analytischenZugang zurPolitik haben. „Wir
sindaberauchsehrkomplementärundwollendasauch
sein.“ Stegner habe eine andererhetorischeBegabung
als sie .„Er kann, wenn er als erster imSaal sprechen
muss,richtigloslegen.Daskannichnichtundwillesei-
gentlich auch gar nicht.“Beide betonen in getrennten
Gesprächen,dasssieeinandervertrauen.Manmerktih-
nenan,dasssieeinanderundvorallemanderennichts
mehr beweisen müssen.„Der SPD-Vorsitz wärefür uns
beide keinKarrieresprung“,sagtStegner selbstbewusst.
Er findet nicht prinzipiell, dass Führungsduos besser
sind,wohlaberinderderzeitigenPhase,inderdieSPD
dringendmehrKollegialitätbrauche.
Ü
berdie ZusammenarbeitvonDietmarBartschund
SahraWagenknecht schrieb ein politischer Be-
obachtermal,diebeidenkönntensichnichteinmaldar-
auf einigen, ob es draußenregnet. Vordiesem Hinter-
grund ist es einigermaßen erstaunlich, dass die beiden
seit vierJahren zusammen an derSpitzeder Linken-
FraktionimBundestagstehen.Derverbindlichwirkende
Bartsch gilt alsReformer ,die eher unnahbareWagen-
knechtistdagegendievehementesteVertreterindeslin-
ken Flügels.Erschwerend kommt hinzu, dassBartsch
undWagenknechtsEhemannOskarLafontainesichnur
über ihr egegenseitigeAbneigung einig sind. Doch in-
haltlicheDifferenzenmüssennichtunbedingtzumZer-
würfnis führen.DasDuo Bartsch/Wagenknecht arbei-
tetenachEinschätzungvonBeobachternbesserzusam-
menalsesnachaußenmanchmaldenAnscheinnahm.
Ergabihr RaumfürihreAlleingänge,dienichtseltenzur
bestenSendezeitindiversenTalkshowszuverfolgenwa-
ren.DafürnutzteerdieZeit,sein Netzwer kimo perativen
Geschäftzufestigen.Bekanntlichschweißtaberauchdie
AbwehrgemeinsamerGegnerzusammen.FürdieFrakti-
onsspitzederLinksparteisinddiesdieVorsitzendender
eigenenPartei,dasFührungsduoausKatjaKippingund
BerndRiexinger.DenMachtkampfvordenBundestags-
wahlenentschiedendieFraktionschefsfürsich.
Wagenknecht gibt ihr Amt demnächst auf, aus ge-
sundheitlichenGründen.DasFazitdes Duosklingtsehr
versöhnlich.In einem gemeinsamenStatement für die
BerlinerZeitungbetonensiedengrundsätzlichenVorteil
einer Doppelspitze: „Eine linkeFraktion lebt wie eine
linkeParteivonderVielfaltihrerBiografien,Perspektiven
und Geschichten“, heißt es darin.Undsie geben einen
Tipp:„DasistamEndedes Tagesdas Geheimnisfüreine
gutfunktionierendeDoppel-Spitze:Vertrauen.“
D
erLapsusmitderPendlerpauschalewäreAnnalena
Baerbock nicht passiert.Zurbesten Sendezeit ver-
irrtesichRobertHabeckimDickichtderRealpolitik,als
er Neuerungen zurPendlerpauschale kritisierte,die die
Bundesregierungbeschlossenhatte.Dabeiwarihmder
nichtunwichtigeUmstand,dassdiesePauschaleseitvie-
len Jahren unabhängigvomgenutztenVerkehrsmittel
gezahltwird,irgendwieentgangen.Wasihmpromptei-
nige hämische Kritik einbrachte.Eine leichteDelle im
Lack,aberkeinTotalschadenfürdasTurboduoderGrü-
nen. Seit Januar 2018 stehen die 38-jährige gebürtige
Hannoveranerin und der 50-jährige Schleswig-Holstei-
nerjetztanderSpitzederPartei,diedenEindruckmacht,
als könne sie ihr Glück darüberimmer noch nicht so
recht fassen. Eine Doppelspitze, die wirklich funktio-
niert,habendieGrünennochnichtallzuoftgehabt.Die
Umfragewerte erreichte derartige Höhen, dass die bei-
denimmeröfterdieFrageabwehrenmussten,wernun
eigentlichalsKanzlerkandidat/inantretenwolle.Bisher
misslang auch dieserVersuch, einenKeil zwischen die
beidenzutreiben.Wassieeint,istnichtzuletztderWille,
gerade jetzt nichts falsch zu machen.Je nachdem, wie
langediegroßeKoalitionnochhält,könntendieGrünen
früheroderspäterdienächsteRegierungstellen.Die
Frageistnur,inwelchemBündnis.Beispieleausden
LänderngibtesinfastjederKonstellation.DieAufgabe
imBundliegtdemnachauchdarin,sichmöglichstviele
Optionenoffenzuhalten.Unddabeidennochnichtallzu
beliebigzuwirken.
DieseGratwanderunggelingtbisjetzt,weilinderÖf-
fentlichkeitvorallemHabecksCharismaHabeckswirkt.
DiegroßenInterviewsunddieEinladungenindieTalk-
shows bekommtmeistenser.Esist nicht schwer,sich
vorzustellen,dassdiesemanchmalschonpenetranteBe-
wunderungfürHabeckAnnalenaBaerbockaufdieNer-
vengeht. Zumal sie sich in politischenDetailfragen oft
besserauskennt.AberdaskönnteinZeiteneinerneuen
RegierungsbildungderVorteilsein,aufdenesankommt.
Ist
doppelt
Spitze?
DieSPDhatsicheineneueÄrader
Kollegialitätverordnet.Deshalbtreten
zurWahlfürdenVorsitzausschließlich
politischePaarean.EinMannundeine
Fraualsgleichberechtigtes
Führungsduo–daskanngutgehen,es
kannaberauchscheitern.DieBeispiele
aufdieserSeitezeigen,dass
Polit-Tandemsdannamerfolgreichsten
sind,wennbeidedaranwachsen.
VonChristine Dankbar und Isabella Galanty