Alexander Demling Älmhult, Wallau
M
ikael Ydholm sitzt vor einer
schwarzen Kochplatte und drei
Stangen künstlichem Stangenselle-
rie in der Wohnung, die alles ver-
ändern könnte: Das Wohnen, wie
wir es kennen – und Ydholms Arbeitgeber Ikea.
Der Schwede mit der runden Brille und dem
ernsten Blick ist von jener Nüchternheit, wie man
sie nach mehr als 30 Jahren in der Möbelbranche
wohl zwangsläufig entwickelt. Doch selbst dieser
No-Nonsense-Typ sagt: „Wenn wir das so extrem
umsetzen wie hier, wäre das auch für Ikea eine
sehr große Veränderung.“
Statt große Visionen an die Wand zu werfen,
zeigt Ikeas oberster Innovationsstratege lieber die
kleinen Details der Musterwohnung: drei Kühlfä-
cher etwa, die den Kühlschrank ersetzen. Jedes
Fach kühlt auf eine Temperatur, die auf die jeweili-
gen Lebensmittel abgestimmt ist, um sie länger
haltbar zu machen. Das soll verhindern, dass Men-
schen in Zukunft weiterhin 30 Prozent ihrer Le-
bensmittel wegwerfen. Tun sie es doch, landen die
Abfälle vorsortiert in einer von drei Röhren, die di-
rekt in die Mülltonnen der ganzen Siedlung führen
- inspiriert von dem Rohrpostsystem, mit dem
Ikea-Kassierer in manchen Filialen das Bargeld aus
ihren Kassen verschicken.
Im Nebenraum der Wohnung, hinter einer gro-
ßen Schiebetür fährt eine Gruppe taiwanischer
Journalisten gerade Rognan aus: Die nach einem
norwegischen Dorf benannte Schrankwand lässt
sich per Touchpad je nach Bedarf in ein Bett mit
Kleiderschrank, einen Schreibtisch und eine Couch
verwandeln. Ab 2020 will Ikea Rognan in Schang-
hai und Hongkong verkaufen.
Willkommen bei den „Democratic Design Days“,
Ikeas alljährlicher Produkt- und Visionsschau am
Firmensitz Älmhult! Die Musterwohnung gehört zu
einem Projekt, für das Ikea mit einem Kopenhage-
ner Designstudio und einem der Gründerfamilie
Kamprad gehörenden Immobilienentwickler zu-
sammenarbeitet.
Die dazugehörige Projektpräsentation erzählt von
den Milliarden Menschen, die in den nächsten Jah-
ren in die Metropolen dieser Welt ziehen werden.
Sie erzählt von Wohnungen, ja ganzen Wolkenkrat-
zern in Modulbauweise, die irgendwann sogar Ikea
bauen könnte – standardisiert, günstig, skandina-
visch designt. „Es ist noch nicht entschieden, ob
wir das machen“, beeilt sich Ydholm zu betonen.
Ein Ikea-Hochaus in Schanghai, Shenzhen oder
Bangkok – die Vision ist nur ein Beispiel für den
Umbruch, den der weltgrößte Möbelhändler
knapp zwei Jahre nach dem Tod seines legendären
Gründers Ingvar Kamprad erlebt. „Ikea steckt in
der größten Veränderung seiner Geschichte“, sagt
Dennis Balslev, der als Deutschlandchef den mit
fünf Milliarden Euro Umsatz wichtigsten Einzel-
markt der Schweden verantwortet. „Früher haben
wir uns selbst verändert, von innen. Nun kommt
der Wandel auch von den Kunden.“
In der Düsterwelt der Flachkartons
Die Kunden hinterfragen vieles, was den Konzern
mit weltweit gut 38 Milliarden Euro Umsatz lange
erfolgreich gemacht hat: Einst begann jeder Ikea-
Besuch mit einer Autofahrt in ein fernes Gewerbe-
gebiet, bis sich am Horizont ein gewaltiger, blau-
gelb leuchtender Flachbau auftat. Waren die Kinder
im Bälleparadies „Småland“ geparkt, benannt nach
Kamprads Heimatregion, führte die Reise weiter in
das Reich der tausend Teelichter und Vorhangstof-
fe, vorbei an vollmöblierten Schlafzimmern mit
märchenhaften Namen und über das Königreich
der Köttbullar schließlich hinunter in die Düster-
welt der Flachkartons. Schließlich wartete in der ei-
genen Wohnung die wahre Heldenprüfung für die
globale Mittelschicht des 21. Jahrhunderts: ein kom-
plettes Möbelstück zusammenzuschrauben, ohne
Nervenzusammenbruch und Ehekrach.
Ikea hat es perfektioniert, seinen Kunden ein
freundliches „Hej!“ zuzurufen, um sie dann als
Lagerarbeiter, Lieferant und Konstrukteur einzu-
setzen – im Tausch gegen relativ hübsche Möbel
zu relativ niedrigen Preisen. Doch Amazon hat
die Konsumenten daran gewöhnt, dass sie niedri-
ge Preise auch erwarten können, ohne auf Kom-
fort zu verzichten. Immer mehr Menschen leben
in Metropolen und wollen im Internet, allenfalls
noch in der Fußgängerzone einkaufen. Ein Auto,
das sie ins Gewerbegebiet bringt, besitzen sie oft
nicht mehr.
Die Megatrends Urbanisierung und Digitalisie-
rung stellen den Billy- und Klippan-Konzern auf
den Kopf – der Ausgang ist ungewiss. Einerseits er-
öffnet die Enge in den Megastädten Ikea völlig neue
Geschäftsfelder wie den Wohnungsbau. Effiziente
Funktionalität steckt dem Konzern schließlich in
den Genen. Andererseits hat der jahrzehntelange
Erfolg den Riesen aus Älmhult auch träge gemacht.
Die Umsätze in den Ikea-Filialen wachsen kaum
noch, in Deutschland zuletzt um ein Prozent. Den
Plan, von aktuell 53 Filialen in Deutschland auf 70
zu erhöhen, hat Deutschlandchef Balslev kassiert.
„Toys‘R‘us dachte, die Leute würden immer in
die Läden kommen, um Spielzeuge vor dem Kauf
anzufassen und auszuprobieren. Die gibt es heute
nicht mehr“, sagt Balslev. „Wir wollen nicht in die-
se Situation kommen.“ Balslev hat im August sein
40 -jähriges Ikea-Jubiläum gefeiert. Er hat bei dem
Möbelhändler gelernt, Filialen geleitet, Filialen er-
öffnet, war dänischer Landeschef, bevor er 2018
Ikeas Deutschlandgeschäft übernahm.
Vor fünf Jahren erst habe das Unternehmen be-
gonnen, sich auf die neuen Vertriebswege einzu-
stellen – Amazon war da schon 20 Jahre alt. „Wir
sind seit 75 Jahren erfolgreich mit dem bisherigen
Konzept – und plötzlich merken wir: Weiterma-
chen wir bisher, wird nicht funktionieren“. Die Di-
gitalisierung hat man lange vernachlässigt, manche
IT-Systeme im Unternehmen sind Jahrzehnte alt.
Auch der Däne Balslev ist ein nüchterner Typ, an-
dere scheinen bei Ikea kaum nach oben zu kom-
men. Über dem karierten Hemd trägt er einen Pul -
lunder der schwedischen Marke Gant, sein graues
Haar ist so akkurat gestutzt wie ein Stockholmer
Vorgarten. Die wolkenkratzenden Visionen vom De-
mocratic Design Day scheinen weit weg in dem un-
verputzten Korridor, der zu Balslevs Büro führt.
Praktischerweise grenzt die Ikea-Deutschlandzentra-
le gleich an die Rückseite der Filiale in Wallau bei
Frankfurt. Mindestens so schnörkellos wie seine Ar-
beitsumgebung ist Balslevs Mission: das Internet
meistern, bevor Amazon den Möbelhandel meistert.
Nach Schätzungen von Statista machte Amazon in
Deutschland 2018 mit rund 344 Millionen Euro be-
reits mehr Onlineumsatz mit Möbeln als Ikea (273
Milio. Euro). Klar, für Ikea macht das Digitalgeschäft
Wenn wir das
so extrem
umsetzen wie
hier,
wäre das
auch für Ikea
eine sehr
große
Veränderung.
Mikael Ydholm
Ikea-
Innovationsstratege
Ola TorkelssonKontinent/laif
Spielbereich in der Ikea-Filiale Zürich: Der Dreiklang aus Kinder im Småland abgeben, Kartons ins Auto laden und Köttbullar essen reicht nicht mehr, um gegen Amazon zu bestehen.
IKEA_CH
Raus aus dem
Bällebad
Ikea steckt im wichtigsten Umbruch seiner
Geschichte. Kann der größte Möbelhändler der
Welt im Internet-Zeitalter noch mithalten?
Report
WOCHENENDE 25./26./27. OKTOBER 2019, NR. 206
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