Mythos Vielflieger
WOCHENENDE 25./26./27. OKTOBER 2019, NR. 206
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Jens Koenen, Christian Wermke
Frankfurt, Berlin, Düsseldorf
U
m 4.40 Uhr klingelt der Wecker. Ni-
klas Lemke springt unter die Dusche,
gelt sich seine blonden Haare zu-
recht. Eine Stunde später steht der
17-Jährige auf dem Bahnsteig von
Graal-Müritz Koppelweg, mitten im mecklenburgi-
schen Nirgendwo. Möwen kreischen, die Regional-
bahn dieselt um 6.04 Uhr heran. In Rostock steigt
Lemke in den Regionalexpress Richtung Berlin-Ge-
sundbrunnen um und schläft, zusammenge-
krümmt über zwei Sitze. In Berlin nimmt er S-Bahn
und Bus, um gegen 9.25 Uhr endlich am Tegeler
Flughafen anzukommen. „Herrlich, der Kerosinge-
ruch“, sagt Lemke, als sich die Bustüren öffnen.
Zielstrebig hüpft er die Treppe zur Business
Lounge hoch, zückt am Lufthansa-Empfang seine
silberne Statuskarte. „JetFriends“ steht drauf, die
Kindersparte des Vielfliegerprogramms Miles &
More. „Manchmal werde ich damit nicht ernst ge-
nommen oder komisch angeguckt“, sagt Lemke.
Aber den FTL, den Frequent Traveller Status, hat
er sich innerhalb weniger Monate erflogen, auch in
diesem Jahr kommt er schon wieder auf 30 Flüge.
In der Lounge zeigt er seinen Lieblingsplatz: zwei
blaue Ledersessel, direkt am Fenster, Blick aufs
Vorfeld des Flughafens. Er holt sich eine Cola mit
Zitrone und Eiswürfel. „Es ist kaum Eis da“, sagt er
und lächelt, „Vielfliegerprobleme.“
Dann geht es ab zum Boarding. Für die Dreivier-
telstunde nach Frankfurt hat sich Lemke die Busi-
ness Class der Lufthansa gegönnt. Mehr als 300
Euro hat er dafür gezahlt. Lemke sitzt auf Platz 4A,
am Fenster. Der Unterschied zur fünften Reihe, die
es schon für 69 Euro gab: Bulette mit Kartoffelsalat
und ein freier Nebensitz. „Das Essen war o.k.“, sagt
Lemke hinterher. Den Service fand er durchwach-
sen. Als er seine vierte Cola bestellen will, sagt ihm
die Flugbegleiterin, dass man hier nun mal nur auf
einem 45-Minuten-Flug sei. „Bei dem Preis kann
man auch Glas erwarten, es gab nur Plastikbe-
cher“, moniert Lemke, der links ein Armband mit
der Aufschrift „VIP“ trägt, goldene Buchstaben auf
schwarzem Grund. Das gibt es nicht auf Meilen,
das hat er sich gekauft.
„Very important person“ sein, im Flugzeug vor-
ne sitzen, einen Drink in der Lounge nehmen statt
am Gate Schlange stehen: Die Anziehungskraft des
Meilensammelns macht auch vor Teilen jener Fri-
days-for-Future-Generation nicht halt, die auf
Deutschlands Straßen für mehr Klimaschutz de-
monstriert. Insgesamt 35 Millionen Menschen, da-
von knapp zehn Millionen in Deutschland, sind
Mitglieder im Lufthansa-Kundenprogramm Miles &
More. Nahezu alle Fluggesellschaften haben ähnli-
che Programme, bei British Airways wird man Mit-
glied im „Executive Club“, Emirates vergibt „Sky-
wards“-Meilen. Das Prinzip ist immer gleich: Für je-
den Flug werden dem Mitglied Meilen
gutgeschrieben, die sich für Gratisflüge, Upgrades
ways liegt mit 1,3 Cent noch über den Deutschen.
Wer im Meilenprogramm der Lufthansa-Billigtoch-
ter Eurowings sammelt („Boomerang Club“)
kommt lediglich auf Meilenwerte von 0,74 Cent.
Zugleich kostet das Privileg, sein Gepäck am
Business-Schalter abzugeben oder ein Gratisbier in
der Flughafenlounge zu trinken, viel Geld. Für
1 000 Euro muss man mindestens fliegen, um den
„Frequent Traveller“ (FTL), den niedrigsten Status
bei Miles & More, zu erlangen. Vorausgesetzt, der
Kunde stellt sich geschickt an und bucht möglichst
günstige Flüge. Weniger Gewitzte zahlen gut und
gerne einige Tausend Euro. Auf den FTL folgt der
Status als „Senator“, benannt nach dem ursprüng-
lichen Namen der ersten Klasse bei der Lufthansa.
Die Elitetruppe von Miles & More sind die HON-
Mitglieder. Die Abkürzung steht für „Honorary“,
was übersetzt „ehrenhalber“ heißt. Für mehrere
Zehntausend Euro müssen die HON-Mitglieder flie-
gen, um an die mysteriös-schwarze Karte zu kom-
men und an den Lufthansa-Drehkreuzen per Por-
sche Cayenne zum Flieger gebracht zu werden.
Wie viele HONs es gibt – streng geheim. Branchen-
experten schätzen die Zahl auf ungefähr 5 000.
Klar, Bonusprogramme gibt es überall. Payback
oder Deutschlandcard beim Einkaufen, Shell
ClubSmart beim Tanken, Hilton Honors im Hotel.
Sogar Krankenkassen geben mittlerweile Apps he-
raus, mit denen sich fleißige Jogger Gesundheits-
prämien erlaufen können. Doch keines dieser Pro-
gramme hat es geschafft, sich einen derartigen My-
thos zu erarbeiten wie die Pendants in der
Vielfliegerei.
Der Erfolg ist allerdings gefährdet. Nicht etwa,
weil die Kunden die Statusillusion durchschauen.
Sondern weil der Klimawandel die gesellschaftli-
che Sicht auf die Flugmeilen verändert. Vielflieger
gelten immer seltener als smarte Jetsetter, immer
häufiger als Ökofrevler, die für ihren Lebensstil
den Planeten ruinieren. Der Begriff der „Flug-
scham“ hat das Zeug zum Wort des Jahres 2019.
Meilenprogramme, die letztlich darauf ausgelegt
sind, die Menschen zum Immer-mehr-Fliegen zu
verführen, wirken da wie aus der Zeit gefallen.
Die Luftfahrtbranche verteidigt sich, der globale
Flugverkehr steuere weniger als drei Prozent der
weltweiten CO 2 -Emissionen bei. Allerdings wächst
der Flugverkehr stark und ist zudem ein Symbol
für den überproportionalen Ressourcenverbrauch
einer kleinen globalen Elite.
Aber egal, das schlechte Gewissen steht meist
hintan, wenn Vielreisende die Status-Gier packt.
Besonders im Dezember müssen Tausende von zu-
meist männlichen Vielfliegern noch mal eben ein
bisschen durch die Luft düsen. Mit dem eigens ge-
buchten „Mileage Run“ heimsen sie die letzten feh-
lenden Meilen ein, um ihren Senator-Status ins
nächste Jahr zu retten. Denn wer nicht genug
fliegt, büßt seine Privilegien ein. Und im Leben wie
in der Lounge gilt: Die Angst vor Statusverlust ist
ein noch weit stärkerer Antrieb als die Aussicht auf
den Aufstieg. Um die Vielfliegerei ist daher eine
in eine höhere Klasse oder allerlei Sachprämien
einlösen lassen. Sammeln und einlösen kann man
die Meilen auch bei zahlreichen Partnerfirmen wie
Hotelketten oder Autovermietungen. Daneben,
und das kreiert die eigentliche Magie, ist die Mit-
gliedschaft je nach Meilenzahl in verschiedene Sta-
tusstufen unterteilt. Je höher der Status, desto
mehr Privilegien genießt der Passagier.
Meilenprogramme sind weit mehr als ein bloßes
Rabattsystem zur Kundenbindung. Sie sind Sinn-
bild des modernen Konsums. Verkauft wird nicht
in erster Linie ein konkretes Produkt, sondern ein
Lebensgefühl, das mit diesem Produkt einhergeht:
Mit der Senator-Card in der Brieftasche kann sich
jeder Vertriebler als Teil des globalen Jetset fühlen.
Gleichzeitig gibt es stets eine noch prestigeträchti-
gere Karte, die es zu erfliegen gilt. Die Welt der
Meilenprogramme liefert einen entlarvenden Ein-
blick in das, was Menschen wirklich antreibt. Und
wie es die Fluggesellschaften verstehen, daraus ein
blendendes Geschäft zu machen.
Europaweit hat keines der Programme so viele
Mitglieder wie das der Lufthansa. Dabei ist der Er-
folg von Miles & More auf den ersten Blicke schwer
verständlich. Das Meilenprogramm der Lufthansa
gehört im internationalen Vergleich zum Mittel-
maß. Eine Meile bei der Lufthansa ist im Schnitt 1,2
Cent wert, wie das Portal Airguru errechnet hat.
Bei Mileage Plan, dem Programm von Alaska Air-
lines, liegt der Schnitt bei 1,6 Cent, auch British Air-
Auf der Jagd nach dem begehrten Vielfliegerstatus lassen sich viele
Passagiere zu unnötigen Flügen oder teuren Upgrades verleiten.
Programme wie Miles & More sind für die Airlines zum Millionengeschäft
geworden – und zum Symbol unser aller Verführbarkeit.
Fliegen ist absolut
mein Leben.
Das ist ein Muss für mich,
sonst fehlt mir was.
Niklas Lemke
Christian Wermke/Handelsblatt 17-jähriger Vielflieger