Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

MONTAG 21. OKTOBER


20:15 Uhr


Die Ungewollten


Die Irrfahrt der St. Louis


Heimatlos auf hoher See


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KULTUR


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ie Sonnenblumen, die Zypressen, der Me-
lancholiker, der Ohr-Abschneider, die Ra-
ben über dem Weizenfeld, der Pistolen-
schuss am Abend des 23. Juli 1890. Viel-
leicht geht ja van Gogh wirklich nur noch
im Kino. Willem Dafoe in der Titelrolle. Regie Julian
Schnabel. Auch Kirk Douglas hat sich für den unsterb-
lichen Mythos die Haare blond färben lassen.

VON HANS-JOACHIM MÜLLER

Und nie ist es gelungen, das Werk ohne die Ergrif-
fenheit zu zeigen, die den Maler zum wohl populärs-
ten Vertreter der künstlerischen Moderne gemacht
hat. Zu Cinemascope-mäßig ist seine Geschichte, zu
sehr besetzt mit jenen dramaturgischen Mustern, die
sich den Künstler nicht anders denn als tragischen
Helden vorstellen können, dessen elendes Leben im
ewigen Triumph seiner Bilder münden muss.
„Making van Gogh“ – ein sehr präzises Arbeitspro-
gramm für die große Vincent-van-Gogh-Ausstellung,
die das Frankfurter Städel in der kommenden Woche
eröffnet. Angedacht und vorbereitet von Felix Krämer,
der in der Zwischenzeit nach Düsseldorf an den
Kunstpalast gewechselt ist, lässt die von Alexander Ei-
ling mit kuratierte Schau keine Bildwünsche offen.
Das Panorama ist so grandios wie der Ruhm, der den
Maler in die Hall of Fame gebracht hat.
Und auch das Barberini in Potsdam hat Großes vor.
In einer sechs Jahre lang vorbereiteten Ausstellung
konzentriert es sich ganz auf die Stillleben des Malers.
Beginn ist am 26. Oktober. Und gleich kramt man im
eigenen Bilderspeicher. Ihn kennt man doch, den Por-
trätisten, den Verehrer abgetragener Schuhe, den
Schilderer zeitlos leuchtender Landschaften. Aber den
Stillleben-Maler? Das Thema ist noch nie untersucht,
noch nie gezeigt worden.
Doch die 27 Gemälde erweisen sich als eigentlicher
Werkkern. Vielleicht ist ja die Gattung der Wohlord-
nung bei diesem Maler viel mehr als nur Pflege der Tra-
dition. Vielleicht sind auch diese Stillleben wie alle Van-
Gogh-Bilder in ihrer unbewussten Anlage Metaphern,
Zeichen für den Rückzug ins Atelier vor den Tisch mit
den fest gefügten Dingen – wo doch sonst im Werk im-
merzu der Boden schwankt, die Luft schwirrt und die
Himmelskörper mit Drohaugen auf die Welt blicken.

IMMER DAS GLEICHE BILDUnd so wird nun ganz
besonders in Potsdam deutlich, was die Frankfurter
Ausstellung so programmatisch angeht: Van Gogh ist
immer irgendwie „gemacht“ worden. Immer war Vin-
cent van Gogh Opfer übergriffiger Fantasien, die sich
den Künstler nicht anders vorstellen wollen denn als
unangepassten Einzelgänger, uneins mit der Welt, in
hermetischer Abgeschiedenheit lebend und arbeitend,
mit sich und seiner Kunst beschäftigt und alles andere
um ihn herum vergessend.
Dass dieses Klischee vor allem in Deutschland ge-
hegt wurde, ist ein Erbe der Romantik, die das bürger-
liche Bild vom verkannten Genie gegen die staatstra-
genden Rollen der französischen Klassizisten entwor-
fen hat. Weshalb van Gogh in der Frankfurter Ausstel-
lung vor allem eine deutsche Liebe ist, noch spürbar in
der Abwehr, mit der zum Beispiel die Dresdener Ex-
pressionisten auf ihn reagiert haben. Auch wenn die
bildnerischen Einflüsse in ihren Frühwerken unüber-
sehbar sind, will doch keiner der „Brücke“-Maler ir-
gendetwas gewusst haben. Van Gogh? Nie gehört, nix
gesehen. Angeblich auch die fünfzig Gemälde nicht,
die die Dresdener Galerie Arnold im Brücke-Grün-
dungsjahr 1905 zeigte.
„In der Zeit“, erinnerte sich Erich Heckel, „in der
wir unsere Vorstöße in neue Gebiete der Malerei
machten, haben wir wirklich keine Bilder der ,Fauves‘
gesehen.“ Und Karl Schmidt-Rottluff sprang fürsorg-
lich bei: „Um die Zeit, da die ,Brücke‘ gegründet wor-
den ist, hatten wir und ebenso andere herzlich wenig

Ahnung, was vielleicht in Frankreich und anderswo
vorging. Van Gogh kam uns zeitlich zu spät.“
Dem steht freilich eine Phalanx von Sammlern und
Museumsleuten gegenüber, die vom Jahrhundertbe-
ginn an ihre schwärmerische Van-Gogh-Verehrung be-
kunden. Der Berliner Galerist Paul Cassirer war einer
der erfolgreichsten Promotoren. Allein bis zum Ersten
Weltkrieg zählte man knapp 120 Ausstellungen
deutschlandweit. An der Kölner Sonderbund-Ausstel-
lung, an der 1912 auch Ernst Ludwig Kirchner und He-
ckel prominent beteiligt waren, ist Van Gogh in fünf
eigenen Sälen der Leitstern der europäischen Malerei.
„Geschichte einer deutschen Liebe“ – die Unterzei-
le zur Frankfurter Ausstellung klingt wie „Geschichte
eines deutschen Missverständnisses“. Aber zu verste-
hen gibt es bei Van Gogh vielleicht doch nicht so viel.
Wie alles an der Liebe ist auch die zu Van Gogh nicht
wirklich rationalisierbar. Der Bann war ja von Anfang
an unbezwingbar, unwiderstehlich. Irgendetwas muss
den Farben beigemischt sein, das sie zu Drogen macht.

Irgendein Existenzpräparat, ein psychochemischer
Wirkstoff, der das Auge daran hindert, in der gemalten
Zypresse und im gemalten Olivenbaum nur die gemal-
te Zypresse und den gemalten Olivenbaum zu sehen.
Unwillkürlich, ohne sich wehren zu können, sieht das
Auge das andere mit, den flirrenden Bedeutungsschat-
ten, den die Dinge werfen.

DAS UNERKLÄRLICHE ERKLÄRENUnd wenn man
nach Gründen sucht für die unverminderte Strahlkraft
dieser Bilder, dann liegen sie eben in der unauflösba-
ren Bezogenheit von Leben und Malerei. Wie bei kaum
einem zweiten Künstler an der Schwelle zur Moderne
spiegelt das Werk die Bereitschaft, alles daranzuge-
ben, alles aufs Spiel zu setzen. Und das schöne leuch-
tende Gelb der Korngarben auf dem Weizenfeld, die
sich ein wenig neigen wie im Josephstraum, ist nichts
weniger als Schönheit, die dem Leben abgetrotzt
scheint. Es ist von großem Zauber, jemandem zuzuse-
hen, wie er sich das Unerklärliche malerisch erklärt.

D

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