Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

D


ennis Muilenburg hatte bislang ei-
gentlich einen Traumjob: Als Vor-
standschef führte er den Flugzeug-
konzern Boeing – und als Vorsitzender
des Verwaltungsrates kontrollierte er sich
praktischerweise gleich selbst.
Das ist nun vorbei: Der Amerikaner
musste seinen Aufseherposten räumen,
verkündete Boeing am Freitag vergange-
ner Woche, und ein neues Komitee in der
Firma werde tödliche Sicherheitsschlam-
pereien stoppen. Nur Stunden vorher hat-
te eine internationale Untersuchungs -
kommission ihren Bericht über das große
Boeing-Desaster vorgelegt.
In den Morgenstunden des 29. Oktober
2018 war eine nagelneue Boeing 737 Max
vor Indonesien kopfüber ins Meer ge-
kracht. Monate später bohrte sich in Äthio-
pien eine weitere 737 Max mit der Nase
voran in ein Feld. 346 Menschen verloren
ihr Leben, und verantwortlich dafür ist ne-
ben Boeing auch die US-Luftfahrtbehörde
FAA: Der Todesflieger 737 Max hätte so
nie gebaut und zugelassen werden dürfen.
Das ist das vernichtende Ergebnis der
Kommission, die im Auftrag der FAA rund


fünf Monate lang analysiert hat, warum
die Maschine je starten durfte. 29 Fachleu-
te gehörten dem Gremium namens »Joint
Authorities Technical Review« (JATR) an,
viele davon arbeiten als Luftfahrtaufseher
in anderen Ländern. Ihr Bericht von 71 Sei-
ten ist in knapper, technischer Sprache
gehalten – aber was er enthüllt, ist Stoff
genug für eine Anklageschrift.
Boeing und die FAA sind in ihrem au-
genblicklichen Zustand offenbar außer-
stande, ausreichend für die Sicherheit von
Passagieren und Crews zu sorgen. Die bei-
den 737-Crashs wirken wie Symptome
eines tödlichen Systems, das womöglich
weitere unsichere Maschinen hervorbrin-
gen kann, wenn es nicht radikal erneuert
wird (SPIEGEL-Titel 32/2019).
Die FAA ist als Aufsichtsbehörde im
Flugzeugbau ein Totalausfall, das zeigt nun
der JATR-Bericht. In dem Büro, das für
Boeing zuständig ist, arbeiten demnach nur
24 Ingenieure, einige davon sind Berufs -
anfänger. Die Truppe soll nicht nur über
die 737 wachen, sondern auch über alle an-
deren aktuellen Verkehrsflieger des Her-
stellers: die 747-8, 767, 777 und 787.
Die FAA-Leute hatten oft keinen Schim-
mer von dem, was die Boeing-Ingenieure
an Neuerungen in der 737 Max unterbrach-
ten. Nur häppchenweise bekamen sie
Infor mationen über das neue Steuerungs-
system MCAS, das die Nase der Maschine
in bestimmten Flugsituationen automa-
tisch absenken sollte. Sie hatten keine
Chance zu erkennen, dass ein fehlerhaft
aktiviertes MCAS die Flugzeuge abstürzen
lassen kann. Die wichtigsten Daten hatte
ihnen Boeing schlicht nicht gegeben.
Im Zulassungsprozess, abgeschlossen im
März 2017, spielte die FAA ohnehin nur
eine marginale Rolle, denn die Behörde

delegierte diese Aufgabe schon seit 2009
fast gänzlich an ausgesuchte Angestellte der
Hersteller. Bei Boeing stehen rund 1500
hoch spezialisierte Ingenieure und Techni-
ker zwar auf dem Lohnzettel der Firma, den-
noch sollen sie gegenüber ihrem Arbeit -
geber als unabhängige Prüfer im Namen der
FAA auftreten. Dieses Arrangement konnte
leicht schiefgehen, und das tat es auch.
Die Autoren des JATR-Berichts fanden
Bestätigungen für den ungeheuerlichen
Verdacht, dass Boeing-Manager viele
dieser Sachverständigen unter massiven
Druck gesetzt hatten. Die Experten muss-
ten zudem Repressalien fürchten, hätten
sie es gewagt, bei Sicherheitsbedenken mit
den Kollegen der FAA direkten Kontakt
aufzunehmen.
Der JATR-Report zählt eine ganze Rei-
he von Gründen auf, die wohl ausgereicht
hätten, der 737 Max die Zulassung zu ver-
weigern. So wurden entscheidende Tests
auf Simulatoren durchgeführt, die sich
nicht wie das echte Flugzeug verhielten.
Risikoanalysen blieben lückenhaft. Annah-
men über das voraussichtliche Verhalten
der Piloten entbehrten jeder Studiengrund-
lage. Die FAA nahm eklatante Verstöße
gegen Zulassungsvoraussetzungen hin –
warum das so war, konnte das Untersu-
chungsteam nicht klären.
Können Airlines und Passagiere also die-
ser Firma und dem Papiertiger FAA noch
trauen? Die Luftfahrtbehörden vieler Län-
der werden im Prozess der Wiederzulas-
sung der 737 Max nun wohl sehr kritische
Fragen stellen. Das Urteil der FAA werden
sie anders als früher nicht mehr zu ihrer
Richtschnur machen. Und das bedeutet:
Die Zulassungsverfahren für die 737 Max
und alle künftigen Flugzeugtypen dürften
langwieriger, komplexer und viel teurer
werden.
Boeing entwickelt derzeit einen Lang-
streckenjet. Schon jetzt erregt er Argwohn,
denn er entsteht unter sehr ähnlichen Be-
dingungen wie zuvor die 737 Max. Die
777X – Erstkunde: Lufthansa – soll die leis-
tungsfähigere und spritsparende Neuauf -
lage der seit 25 Jahren fliegenden 777 sein.
Eigentlich hätte die Maschine ihren
Jungfernflug längst absolvieren sollen,
aber das Projekt wurde mehrfach zurück-
geworfen. Kürzlich unterzog Boeing die
777X am Boden einem Drucktest, den sie
nicht bestand: Explosionsartig war eine
Frachttür aufgesprungen.
Fehlkonstruierte Frachttüren brachten
schon einige Jets zum Absturz.
Marco Evers

110 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


Technik

Tödliches


System


LuftfahrtEin Untersuchungs -
bericht zeigt, wie Boeing bei der
Zulassung des Katastrophen -
fliegers 737 Max getrickst hat.
Die Firma zieht Konsequenzen.

LINDSEY WASSON/ REUTERS
Geparkte Maschinen des Typs 737 Max: Stoff genug für eine Anklageschrift

Animation
Die Boeing-Story

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