DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019 117
Kuckucks beschreibt oder den na-
turtrüben Wein, der ihm kredenzt
wird.
Die eigentliche, die größere Fra-
ge hinter der Debatte um Handke
ist die nach dem Selbstverständnis
der westlichen Welt: Der Nato-An-
griff auf Jugoslawien 1999 war ein
historischer Moment. Hier vollzog
sich vollends die moralpolitische
Wende des Westens, die bis heute
die deutsche Außenpolitik prägt.
Diese Moralpolitik aber ist unter
Druck geraten, seit Trump, seit Sy-
rien. Die Wortgefechte um Handke
sind auch Rückzugsgefechte.
Indem der Schriftsteller um die
Jahrtausendwende diese Politik kri-
tisiert hatte, sagte er indirekt auch:
Ihr seid gar nicht die Guten, für die
ihr euch haltet. Die Reaktion vieler
westlicher Intellektueller und Me-
dienleute, die er dabei direkt oder
indirekt angegriffen hatte, war ent-
sprechend: Für sie war Handke der
Bösewicht.
Die Geschichte um Handke führt
schnell aus der Messehalle heraus,
sie führt auf Websites und Zeitungs-
artikel, zu Tweets und Radiokom-
mentaren, zu Schlagwörtern wie
»Serbischer Nationalist«, »Apolo-
get von Kriegsverbrechen«, »Geno-
zidleugner«, ja sogar: »rechts -
extrem«. Sie führt aber auch ins Bü-
cherregal, zu mehreren essayistisch
erzählenden Bänden, in denen
Handke seit den Neunzigern von seinen
Reisen, erst auf den Balkan und dann zum
Kriegsverbrecherprozess in Den Haag, be-
richtet hatte.
Saša Stanišić hat sich, als er in Frankfurt
seine Preisrede hielt, auf eines dieser Bü-
cher bezogen: auf Handkes »Sommer licher
Nachtrag zu einer winterlichen Reise«, er-
schienen im Herbst 1996. In diesem Buch
beschreibt Handke auch einen Aufenthalt
in Višegrad. In der Stadt lebten keine oder
zumindest so gut wie keine Muslime mehr.
Entweder waren sie schon vor Jahren ge-
flohen, oder sie waren ermordet worden.
Als das geschah, 1992, flüchtete Saša
Stanišić mit seiner Mutter nach Deutsch-
land. Er war 14 Jahre alt. In »Herkunft«,
dem Roman, für den er den Deutschen
Buchpreis bekommen hat, schildert er, was
davor passiert war. Ein Polizist hatte die
Mutter gewarnt: Den Muslimen gehe es
bald an den Kragen.
»Herkunft« ist ein mitreißendes Buch
mit starken autobiografischen Bezügen.
Und dieser autobiografische Bezug ist es,
der Stanišićs Kritik an Handke diese ganz
besondere Wucht verleiht. Stanišić kriti-
siert Handke nicht allein aus einer morali-
schen oder intellektuellen Position heraus,
er kritisiert ihn auch, weil er selbst das,
was Handke da schildert, anders erlebt hat.
Er habe das Glück gehabt, sagte Stanišić
am Montag bei der Preisverleihung, »dem
zu entkommen, was Peter Handke in sei-
nen Texten nicht beschreibt. Dass ich heu-
te vor Ihnen stehen darf, habe ich einer
Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser
Mensch nicht angeeignet hat«.
»Dieser Mensch«, von dem Stanišić da
sprach und dessen Name die Frankfurter
Buchmesse fortan beherrschte, war wäh-
renddessen weit weg: fast 800 Kilometer
weiter südöstlich, in Kärnten, in einem
kleinen Ort namens Griffen, in dem Hand-
ke aufgewachsen ist und bis 1961 gelebt
hatte. Der Bürgermeister und der Kärnt-
ner Landeshauptmann hatten einen klei-
nen Empfang für den Nobelpreisträger ar-
rangiert, angeblich war der Abend unab-
hängig vom Preis schon länger geplant.
Nun stand Handke da, an eine Theke ge-
lehnt, neben sich ein Glas Weißwein und
einen Blumenstrauß in Weiß und
Rot, den Farben Österreichs, im
Arm. Eine Reporterin des österrei-
chischen Fernsehens sprach ihn auf
Stanišić an.
Schnell wallte der Zorn auf bei
Handke, er fuchtelte mit den Hän-
den: »Ich bin nicht hier, um auf
diesen Scheißdreck zu antworten.
Und jetzt verschwinden Sie sofort,
bitte.« Vier Tage habe er Demüti-
gungen erlebt »von der ganzen
Welt«. »Diese Pseudojournalisten.
Ich hasse den Journalismus.« Von
keinem Menschen, der zu ihm kom-
me, höre er, dass er »irgendetwas
von mir gelesen hat, dass er weiß,
was ich geschrieben habe«.
Für die Rolle des Schurken dürf-
te sich Handke mit dem Auftritt
empfohlen haben. Sein Verhältnis
zu den Medien ist ambivalent, zeit
seiner Karriere hat er die Nähe der
Journalisten gesucht, ist mit ihnen
durch den Wald spaziert und hat
mit ihnen Pilze gegessen, selbst
sein Bett hat er vorgezeigt, als ihn
ein Reporter in seinem Haus in
Chaville besuchte.
Würde im Roman über Handke
und Stanišić auch ein Social-Media-
Redakteur vorkommen, er fände
die Geschichte von Handkes Wut-
ausbruch wohl ideal. Als kurzer
Film, der sich online teilen lässt, ist
die Szene in Griffen fantastisch ge-
eignet. Aber trüge ein solcher Clip
auch dazu bei, die Zusammenhänge zu er-
hellen? So manches von dem, was über
Handke geschrieben wurde, beruht auf
Halb- oder Viertelwissen. Ein Link reicht
aus, um sich ein schnelles Urteil zu bilden,
die insgesamt mehr als 600 Buchseiten
Handkes über den Jugoslawienkrieg und
dessen Folgen zu lesen ist mühevoller und
viel weniger eindeutig.
Handke ist ein zögernder, skrupulöser
Autor, er thematisiert die eigenen Zweifel
in diesen Büchern beständig, oft benutzt
er als stilistisches Mittel die Frage. Saša
Stanišić hat in seiner Preisrede daraus ab-
geleitet, dass Handke die Verbrechen in
Višegrad leugne, und seine These in der
Rede mit einem Satz belegt: »Milizen, die
barfuß nicht die Verbrechen begangen ha-
ben können, die sie begangen haben.« Die-
sen Satz allerdings hat Handke gar nicht
geschrieben.
Vo m SPIEGELdarauf angesprochen,
schrieb Stanišić in einer Mail: Das sei kein
Zitat, sondern eine Paraphrase dessen, was
Handke geschrieben habe. In der Druck-
version der Rede in der »FAZ« ist der Satz
verändert. Stanišić hat den Text über -
arbeitet, bevor er erschien.
Das alles wäre nur eine unwichtige Klei-
nigkeit am Rande, stünde dieses Detail
Kultur
AFP
Redner Handke bei Milošević-Trauerfeier 2006
»Dreck am Stecken«
»Eines Tages werden die
Reaktionen Gegen-
stand einer historischen
Abhandlung sein.«