Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

W


ie sie da auf dem Podium steht,
schwingt in der Freude und
dem berechtigten Stolz der
Ausgezeichneten ein leichter
Unterton der Verlegenheit mit. Die Phi-
losophin Lisa Maria Herzog, 35, ist eine
der jüngsten deutschen Profes sorinnen.
Bis vor Kurzem lehrte sie Poli tische Phi-
losophie und Theorie an der Technischen
Universität München, zum 1. Oktober ist
sie ans Centre for Philosophy, Politics
and Economics der Univer sität Gronin-
gen in den Niederlanden gewechselt. So-
eben hat sie die zwei höchstdotierten
Preise erhalten, die im deutschsprachigen
Raum auf dem Gebiet der Philosophie
vergeben werden: den Tractatus des Phi-
losophicum Lech im österreichischen
Wintersportort am Arlberg und den Deut-
schen Preis für Philosophie und Sozial-
ethik. Der eine ist mit 25 000 Euro dotiert,
mit 100 000 Euro der andere.
Herzog beschäftigt sich in ihrer Arbeit
mit Märkten und wirtschaftsethischen Pro-
blemen. Möglicherweise rührt daraus die
Verlegenheit. Denn ist dieses Nachdenken
überhaupt »Arbeit«?
In ihrer Rede in Lech Ende September
entwirft sie einen Dialog mit einem fikti-
ven Nachbarn und AfD-Sympathisanten.
Aus diesem spricht das Misstrauen gegen
Exzellenz und Eliten, er wittert hinter der
akademischen Tätigkeit den Klüngel der
Privilegierten und bezweifelt, dass das
Verfassen eines Buches eine Tätigkeit
darstelle, die so viel Belohnung rechtfer-
tige. Würde er das immer noch glauben,
entgegnet sie, wenn er wüsste, wie wenig
Glamour die Arbeit am Schreibtisch ha-
ben kann, acht Stunden pro Tag, fünf Tage
pro Woche? Und umgekehrt, wie sinnstif-
tend und erfüllend Tätigkeiten sein könn-
ten, zu denen man ein rein funktionales
Verhältnis habe, weil sie gesellschaftlich
notwendig seien?
Arbeit und Verdienst – um dieses Be-
griffspaar kreist Herzogs Denken, um
seine Spannungen, Widersprüche und
Diskrepanzen, die das gesellschaftliche
Zusammenleben prägen. Bekäme jeder,
was er verdient und was ihm zusteht, wäre
der Zustand der sozialen Gerechtigkeit
erreicht. Wie eine Gesellschaft es mit
der Gerechtigkeit hält, zeigt sich am
besten, so Herzog, wenn man die Beschaf-
fenheit ihrer Arbeitswelt betrachtet – und
auch, wie sie mit denjenigen umgeht, die


darin angeblich nicht mehr gebraucht
werden.
»Die Rettung der Arbeit« heißt Herzogs
jüngstes und jetzt preisgekröntes Buch, das
sie als politischen Aufruf versteht, da es
um die Machtverhältnisse zwischen Wirt-
schaft und Politik geht*. Die Angst vor
den Umbrüchen der digitalen Transforma-
tion, dem Verschwinden von Berufen und
der Vernichtung von Arbeitsplätzen, trägt
zweifellos dazu bei, dass populistische Ver-
suchungen die Demokratie immer schärfer
herausfordern. Das Überleben der libera-
len Demokratie hängt auch davon ab, was
sie dem Kapitalismus noch entgegenzu -
setzen hat.
Doch warum muss die Arbeit überhaupt
gerettet werden? Bestünde die moderne
Utopie nicht gerade darin, Arbeit überflüs-
sig zu machen, die Menschen vom Zwang
zur Arbeit zu befreien? Wie es Karl Marx
vorschwebte, als er die Vision beschrieb,
»heute dies, morgen jenes zu tun, morgens
zu jagen, nachmittags zu fischen, abends
Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu
kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne
je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu
werden«?
Bei allen Zukunftsvisionen, erwidert
Lisa Herzog, stelle sich für sie immer die
Frage, ob sie auch für alle Mitglieder der
Gesellschaft realistisch seien. »Deshalb

glaube ich, dass wir nicht auf ein irgendwie
geartetes Ende der Arbeit setzen, sondern
uns die Aufgabe vornehmen sollten, zu
überlegen, wie die Arbeit, die zurzeit ganz
klassisch als Lohnarbeit organisiert ist,
anders, besser gestaltet werden kann.«
Nicht von der Arbeit befreien, sondern die
Arbeit befreien – das ist ihr Ziel.
Seit der biblischen Erzählung von der
Vertreibung aus dem Paradies wird Ar-
beit – »im Schweiße deines Angesichts« –
als Strafe und Fluch empfunden. Aber
durch die Ideengeschichte des politischen
Denkens zieht sich seit Aristoteles ebenso
der Gedanke, dass Arbeit zur mensch -
lichen Natur gehöre, dass sie zur Verwirk-
lichung des Selbst beitrage. Menschsein
bedeutet, die materielle Welt zu formen
und selbst dadurch geformt zu werden.
Die Arbeit ist eine der elementaren Sinn-
ressourcen des nach Bedeutung suchenden
Menschen.
Menschliche Arbeit, so Herzog weiter,
sei vor allem eine soziale Angelegenheit.
Weil Menschen soziale und deshalb poli-
tische Wesen sind, arbeiten sie in der
Regel gemeinsam mit anderen und eben-
so für andere. Anders als von Marx an -
genommen, entsteht Arbeitsteilung nicht
nur aufgrund von äußerlichem Zwang
im Kapitalismus. »Arbeit bringt uns mit-
einander in Kontakt. Sie stellt uns in so-
ziale Räume, ohne die unser Leben um
ein Vielfaches ärmer wäre.« Die Arbeits-
welt ist die Erfahrung von Diversität und
Gemeinsamkeit. Dieser Vielfalt zu begeg-
nen sei für den Einzelnen bereichernd
und für den sozialen Kitt einer Gesell-
schaft un erlässlich. Deshalb müsse die
Gelegenheit dazu auch in der digitalen
Zukunft er halten bleiben.
Dass die Sozialität menschlicher Arbeit
integrierend wirkt, sollte eigentlich eine
Selbstverständlichkeit sein – wird aber
oft ausgeblendet. Wenn moderne Arbeit
ihrer Natur nach geteilt ist, »kann es be-
glückend und bereichernd sein, an ar-
beitsteiligen Systemen mitzuwirken – es
sei denn, diese sind so organisiert, dass
die arbeitenden Menschen Zwang, Schi-
kane oder Ausbeutung ausgesetzt sind,
sodass der Strafcharakter in der Arbeits-
welt bis heute noch immer präsent ist«.
Die Utopie besteht demnach nicht im

* Lisa Herzog: »Die Rettung der Arbeit. Ein politischer
Aufruf«. Hanser Berlin; 224 Seiten; 22 Euro.

126 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


Kultur

Die Arbeit befreien


GeisteswissenschaftenLisa Herzog ist der neue Star der akademischen Sozialphilosophie.
Wer die Demokratie retten wolle, sagt sie, müsse die Jobwelt humanisieren.

ENNO KAPITZA / AGENTUR FOCUS
Philosophin Herzog
Arbeit als Kitt der Gesellschaft
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