das ist im Prinzip jene Zone, die YPG-
Kämpfer verlassen müssten, falls sie sich
auf den Plan von Trumps Vize Pence
und Erdoğan einließen. Zehn Städte und
140 Dörfer sollten nach dem bisherigen
Plan Ankaras dort entstehen, in denen bis
zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus
der Türkei angesiedelt werden könnten.
Bewacht werden sollte das Gebiet von der
sogenannten Nationalen Armee, einem
Milizenverbund aus Kämpfern der ehema-
ligen Freien Syrischen Armee und Islamis-
tengruppen.
Mit der Offensive gegen die Kurden hat
Erdoğan die Türkei weitgehend internatio-
nal isoliert. Den Präsidenten lässt das un-
beeindruckt. Erdoğan habe sich entschie-
den, für die Operation »Friedensquelle«
notfalls einen Einbruch der türkischen
Wirtschaft in Kauf zu nehmen, heißt es in
Ankara.
Erdoğan steht seit der Niederlage seiner
AKP bei der Wahl in Istanbul im Juni in-
nenpolitisch unter Druck wie nie zuvor in
seiner Laufbahn. Istanbuls neuer Bürger-
meister Ekrem Imamoğlu bestimmte mo-
natelang die Agenda, AKP-Spitzenpoliti-
ker bereiten die Gründung einer eigenen
Partei vor. Mit dem Einmarsch in Syrien
hat sich Erdoğan eine Atempause ver-
schafft. Krieg ist gut für Autokraten: Weite
Teile des Landes haben sich hinter
dem Oberbefehlshaber versam-
melt. Oppositionsführer Kemal Kı-
lıçdaroğlu sagte, er kenne jetzt nur
noch eine Partei, die der türkischen
Flagge. Bei einem Auftritt im tür-
kischen Parlament wurde Erdoğan
diese Woche mit Ovationen emp-
fangen.
Ob Erdoğan mit der Interven -
tion Erfolg hat, hängt aber nur
noch bedingt von ihm selbst ab.
Seit sich die YPG und das Assad-
Regime gegen die Türkei verbün-
det haben, entscheidet sich die Zu-
kunft der Operation »Friedensquel-
le« weniger auf dem Schlachtfeld
als vielmehr in Damaskus – und
vor allem in Moskau.
Erdoğan, so erzählen Vertraute,
wurde von dem Deal zwischen den
Kurden und Assad überrascht.
Doch er weiß, dass er ohne die Un-
terstützung Putins in Syrien weit-
gehend handlungsunfähig ist.
Kommende Woche reist Er-
doğan für Gespräche mit Putin
nach Moskau. In Ankara hofft man
darauf, dass Putin Erdoğan zumin-
dest ein begrenztes Stück syrischen
Territoriums als »Pufferzone«
überlässt. Sollte der Kremlchef je-
doch darauf bestehen, dass Assad
die Kontrolle über das gesamte sy-
rische Staatsgebiet zurückerlangt,
droht Erdoğan eine Blamage: Da
er sein Militär kaum in einen aussichtslo-
sen Krieg gegen syrische, russische und ira-
nische Truppen wird jagen wollen, müsste
er wohl unverrichteter Dinge aus Syrien
abziehen.
Das verratene Volk
Das Auf und Ab im Leben von Mazloum
Kobane ist untrennbar verwoben mit dem
Schicksal der Kurden. So eng, dass seinen
Geburtsnamen, Ferhat Abdi Şahin, inzwi-
schen kaum noch jemand kennt, nur noch
seinen Kampfnamen. Mazloum Kobane –
den Namen wählte er, weil er aus der sy-
risch-kurdischen Stadt Kobane stammt.
Kobane ist jetzt in den Fünfzigern. In sei-
ner Jugend lernte er in Syrien Abdullah
Öcalan kennen, den Mitbegründer der
PKK, den er als Freund bezeichnet. Heute
kommandiert er den syrischen Ableger der
PKK, die YPG. Wie viele Kurden träumt
Kobane von einem eigenen kurdischen
Staat im Nahen Osten.
Gemeinsam mit den USA gelang es sei-
ner Miliz, den IS in Syrien zu schlagen.
Kobane nutzte die Gelegenheit, um ein
Drittel des syrischen Territoriums zu er-
obern. Die Kurden machten sich auch in
Städten und Gemeinden wie Manbidsch
breit, wo mehrheitlich Araber lebten. Men-
schenrechtsorganisationen warfen ihnen
die Zwangsrekrutierung von Minderjähri-
gen vor. Doch sie etablierten eine Autono-
mieregion, genannt Rojava, die vergleichs-
weise stabil war und in der Frauen und
Minderheiten mehr Rechte genossen als
andernorts in Syrien.
Mit dem Einmarsch der Türkei in Nord-
ostsyrien ist Rojava in seiner Existenz be-
droht. Kobane versucht zu retten, was zu
retten ist. Er hat für die Kurden den Deal
mit dem Assad-Regime und Russland aus-
gehandelt, auch wenn er selbst mehrfach
in syrischen Folterkellern in Gefangen-
schaft saß und weiß, dass das Regime eine
Autonomie der Kurden kaum akzeptieren
wird. »Wenn wir zwischen schmerzhaften
Kompromissen und Völkermord wählen
müssen, wählen wir das Überleben unse-
res Volkes«, schreibt er in einem Gastbei-
trag für »Foreign Policy«.
Laut der Internationalen Organisation
für Migration sind schon jetzt 190 000 Men-
schen im Nordosten Syriens auf der Flucht
vor den Türken. Ihre Routen sind so ver-
worren wie der Krieg selbst: Manche wol-
len in den Irak. Die meisten gehen in den
Süden Rojavas, wo es gerade noch etwas
ruhiger ist.
An einer Tankstelle mitten in der Step-
pe sitzt Sultana Suleyman, 75 Jahre alt,
mit ihrer neunköpfigen Familie und
Dutzenden Taschen, Koffern, Tü-
ten und wartet auf den Bus nach
Damaskus. Heim in die Diktatur,
die Kurden jahrzehntelang als Men-
schen zweiter Klasse behandelt hat.
Aber »Erdoğans Terroristen bom-
bardieren uns!«, klagt sie.
Die Rückkehr des
»Kalifen«
In seiner bislang letzten Audiobot-
schaft im September erteilte Abu
Bakr al-Baghdadi, Anführer der
Terrormiliz IS, aus seinem Versteck
an einem unbekannten Ort seinen
Anhängern einen Befehl: Sie soll-
ten Dschihadisten, die bei den
Kurden in Haft säßen, befreien, for-
derte er. »Tut euer Möglichstes, um
eure Brüder und Schwestern zu
retten.«
Im Westen nahm den Appell da-
mals kaum jemand ernst. Der IS
schien geschlagen, nachdem er mit
Baghus im Frühjahr seine letzte
Hochburg verloren hatte. Seine
Kämpfer sind tot, geflüchtet oder
sitzen in den kurdischen Haftanstal-
ten im Nordosten Syriens ein. Etwa
80 000 IS-Anhänger soll die Kur-
denmiliz YPG gefangen genommen
haben, darunter etwa 11 000 Kämp-
fer und mehr als 70 000 Frauen und
Kinder, etliche von ihnen kommen
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IS-Führer Baghdadi: Zermürbungskrieg aus dem Hinterhalt
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Kurdische Kämpferinnen: Schmerzhafter Kompromiss