Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
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gagierten Mittelschichten vertreten sind, sollten die Mit-
glieder ausgelost werden. So wäre die Chance am größten,
dass die gesamte Gesellschaft repräsentiert würde, auch
die SUV-Fahrer. Und wenn man schon über Reformen
nachdenkt: Demokratien tun sich schwer mit der Zukunft,
da die Politiker meist nur bis zur nächsten Wahl denken,
und die steht in maximal vier bis fünf Jahren an. Es wäre
daher sinnvoll, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken.
Dann wäre die Zukunft stärker im Elektorat vertreten.


Legitimität

In Wirtschaftskreisen bricht manchmal die große Schwär-
merei über China aus. Wie schnell das alles gehe, wie
schnell die eine Transrapidstrecke bauten, wie schnell den
flächenmäßig größten Flughafen der Welt, und die
Deutschen, haha, bekämen nicht einmal den BER hin.
Wie lahm, wie inkompetent, wie ineffizient.
Eine ähnliche Leier ertönt mehr und mehr aus dem
grünbewegten Milieu. Wie langsam die Energiewende
vorankomme, wie schwach der Klimakompromiss der
Großen Koalition sei. China gilt in diesen Kreisen nicht
als Vorbild, aber die Schnittmenge mit den Wirtschafts-
kreisen ist die Ungeduld mit der Demokratie.
Natürlich ist beim BER auch Inkompetenz im Spiel, und
natürlich könnte die Kanzlerin sich mal ein Herz nehmen
bei der Klimapolitik, aber das schwache Bild, das Deutsch-
land manchmal abgibt, hat auch mit den demokratischen
Verfahren zu tun. Und das ist nicht nur schlecht, könnte
man hinzufügen.
Selbst Diktatoren können nicht ewig gegen ihr Volk re-
gieren, sonst fegt sie ein Putsch hinweg. Aber Demokra-
tien sind in ganz anderer Weise auf Zustimmung angewie-
sen. Sie müssen überzeugen, sie müssen Kompromisse
finden, weil sie die unterschiedlichen Auffassungen in der
Gesellschaft zu berücksichtigen haben, gerade wenn
Koalitionen regieren. Das dauert, das kann gar nicht ent-
schieden wirken. Es geht Demokratien nicht nur um
Effizienz und Effektivität, sondern auch um Legitimität.
Nach den politischen Entscheidungen kommt der
Rechtsstaat ins Spiel. Alles kann angefochten werden,


jeder Strommast, jede Windkraftanlage. Das nervt oft.
Aber ist das nicht eine der Grundlagen der Demokratie:
dass man nicht einer Obrigkeit ausgeliefert ist, sondern
sich über den Rechtsstaat wehren kann? Oder dass schon
im Vorfeld Bürgerbeteiligung vorgeschrieben ist?
Die Blockaden der großen Städte, die Streiks gegen die
schwache Klimapolitik zeigen eine gewisse Bereitschaft, Ge-
setze und Vorschriften zu missachten. Die Demokratien
haben auch schon andere Phasen zivilen Ungehorsams über-
lebt, den Kampf gegen Nachrüstung und Atomkraft zum
Beispiel, es ist nicht so schlimm. Aber man sollte auch sehen,
wie die deutsche Demokratie mit Protesten umgeht und
wie die chinesische Regierung in Hongkong zuschlagen lässt.
Wer mehr Entschiedenheit fordert, muss jedenfalls da-
mit rechnen, sie auch dort zu bekommen, wo er sie lieber
nicht hätte. Es ist trotzdem richtig, dass es zu viel Bürokra-
tie gibt, dass der Staat entschlackt werden könnte. Die Kli-
makrise wäre eine Chance, die Abläufe zu vereinfachen –
in einem parlamentarischen, rechtsstaatlichen Verfahren.
Es geht. Es gibt durchaus strukturelle Probleme, Wider-
sprüche, Dilemmata, aber all dies ist lösbar. Demokratien
können mit dem Klimawandel umgehen, sie haben schon in
der Vergangenheit bewiesen, dass sie existenziellen Heraus-
forderungen gewachsen sind, haben den Krieg gegen den
Faschismus gewonnen, danach den Kalten Krieg gegen den
vormaligen Verbündeten Sowjetunion. Sie halten Ängste
aus, ohne durchzudrehen, sind anpassungsfähig und stabil.
Mit einer Mischung aus Debatten, Verboten, CO²-Ve r-
brauchsteuern, freiwilligem Verzicht, Respekt vor ande-
ren Haltungen, Bürgerräten und einer effizienteren Büro-
kratie ist die Demokratie den Herausforderungen des Kli-
mawandels gewachsen und bleibt dabei Demokratie.
Irrelevant? Ein Demokrat kann tolerieren, dass die Städ-
te blockiert werden, dass die Kritik scharf oder ungerecht
wird. Kein Problem. Für Angriffe auf die Demokratie als
solche gilt das nicht. Keine Toleranz den Feinden der Tole-
ranz. Dieser Satz gilt auch in Zeiten des Klimawandels.

PHILIPPE WOJAZER / REUTERS
Klimaaktivistin Thunberg (2. v. r.) und Mitstreiter in der französischen Nationalversammlung

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