Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

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Streitet euch!


LeitartikelViele Jugendliche sind anfällig für Populismus. Da kann nur die Schule helfen.


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erschweigt die Regierung den Bürgern die Wahrheit?
Ein Großteil der Jugendlichen in Deutschland ist
davon überzeugt. Jeder Zweite denkt, der Staat küm-
mere sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürfti-
ge Deutsche. Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen glauben,
in Deutschland dürfe man nichts Schlechtes über Ausländer
sagen, »ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden«.
Diese Aussagen stammen aus der neuesten Shell-Jugend-
studie. Wissenschaftler zeichnen darin das Bild einer gespal -
tenen Generation: Im Schatten der jungen Menschen, die
bei »Fridays for Future«-Demonstrationen mitlaufen und
sich Gedanken um die Zukunft
machen, wächst eine verunsicher-
te Gruppe heran, die sich von
den Mächtigen und gesellschaft-
lichen Eliten ignoriert und ma -
nipuliert fühlt.
Woher das kommt? Eine Er -
klärung lautet: Für junge Men-
schen ist das Elternhaus weiter-
hin die prägendste Instanz – im
Guten wie im Schlechten. Das
gilt für den Erfolg in der Ausbil-
dung, für die Familienplanung
und in erstaunlich hohem Aus-
maß für die eigene Weltsicht.
Die Polarisierung der Gesell-
schaft, die sich bei Erwachsenen
schon länger abzeichnet und
sich in Wahlergebnissen nieder-
schlägt, kommt mit voller Wucht
auch bei der Jugend an.
30 Jahre nach dem Mauerfall
ist die Grenze zwischen Ost und
West noch sichtbar – sogar in
einer Generation, die das geteilte Deutschland gar nicht erlebt
hat. Jugendliche aus dem Osten vertrauen klassischen Medien
deutlich seltener als ihre Altersgenossen im Westen, gleich -
zeitig sind sie empfänglicher für populistische Botschaften.
Das Grundgesetz schützt die Rechte von Eltern und den
Zusammenhalt von Familien. Im Idealfall erleben Jugend -
liche hier Urvertrauen, bedingungslose Liebe und Unterstüt-
zung. Doch die Nähe hat eine Kehrseite: Viele Eltern schei-
nen nicht fähig oder willens, Kinder gegen die Verführungen
und Verschwörungstheorien des Internets und der Populis-
ten zu immunisieren. Und dem deutschen Bildungssystem
gelingt es nicht, die ungute Übermacht der Elternhäuser
zu brechen. Reformen wie der Vormarsch der Ganztagsschu-
le und der Kita-Ausbau sollten helfen, die soziale Schere zu
schließen. Noch sind die Ziele in weiter Ferne.
Denn die Reformen kamen spät und wurden halbherzig
umgesetzt, und die Reformer stürzten sich vor allem auf
Strukturen. Für neue Inhalte fehlte oftmals die Energie.

Schule sollte ein Ort für Debatten sein, an dem Kinder
und Jugendliche zum selbstständigen Denken angeregt
und Mythen entzaubert werden. Zu Hause haben Jugend -
liche oft keine Chance, eine eigene Haltung zu entwickeln.
Dafür ist das Verhältnis zwischen den Generationen zu eng.
92 Prozent der Jugendlichen verstehen sich »gut« oder sogar
»bestens« mit den eigenen Eltern, ergab die Shell-Studie.
Von Generationskonflikten, wie sie angesichts der hitzigen
Klimadebatten zu erwarten wären, keine Spur. Harmonie in
den Familien ist schön, doch Eltern und Kinder schmoren so
auch im eigenen Saft. Über Politik streiten? Muss nicht sein.
Wer jedoch in jungen Jahren
nie gegen Widerstände prallt,
wer unreflektiert Phrasen
der Eltern übernimmt, wird es
schwer haben, später eigen -
ständig und kritisch zu denken.
Das macht anfällig für Popu -
lismus. Ihr Wissen beziehen
junge Leute am häufigsten
aus dem Netz, vor allem über
so ziale Medien.
Auch ein großer Teil der
Erwachsenen informiert sich
nur im Internet. Ihnen dürfte
es ebenso schwerfallen, im
Dschungel von Tweets, Videos
und Kommentaren zu er -
kennen, was wahr und was
Stimmungsmache ist. Wie
sollten sie es also ihren Kin-
dern beibringen?
Ein verstörendes Beispiel
dafür ist die Mutter des Halle-
Attentäters, die ihrem Sohn
attestierte, kein Judenfeind zu sein: »Er hat was gegen die
Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat
das nicht?« Eine typische Verschwörungstheorie über das
angebliche jüdische Finanzkapital.
Umso wichtiger ist es, gesellschaftliche Debatten aus
dem Internet und in die Schulen zu holen: Wie verändert
sich unser Land durch Zuwanderung? Wieso gibt es in
Syrien immer noch Krieg? Was ist künstliche Intelligenz –
und muss man Angst davor haben?
Schule muss sich der Aufgabe stellen und stärker sein
als Instagram, YouTube und Facebook: mit mutigen Päda-
gogen, die mit kontroversen Ansichten umgehen können
und eine Diskussion im Klassenzimmer nicht scheuen. Mit
genug Zeit, diese Debatten zu führen. Die Schule muss in
diesem Sinne politischer werden, ohne zu ideologisieren.
Wenn das nicht gelingt, entsteht eine Generation, die ver-
führbar ist von einfachen Wahrheiten und Verschwörungs-
theorien – und damit auch von Populisten. Miriam Olbrisch

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DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019

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