Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

Mit seinen 46 Jahren hat Roderick James
Nugent Stewart mehr hinter sich als andere
in einem ganzen Leben: geboren in Hong-
kong als Sohn eines schottischen Diploma-
ten, teilweise aufgewachsen in Malaysia,
lange für das britische Außenministerium
in Krisengebieten tätig. 2002 durchwan-
derte der Mann, der etliche Sprachen
spricht und Nachhilfelehrer der Prinzen
William und Harry war, allein Afghanistan
und schrieb darüber einen Bestseller. 2010
wurde er als Abgeordneter für die konser-
vative Partei erstmals ins britische Parla-
ment gewählt. Im Sommer bewarb er sich
neben Boris Johnson und anderen um die
Nachfolge Theresa Mays. Als einziger ex-
plizit EU-freundlicher Kandidat blieb er
überraschend lange im Rennen. Weil er an-
schließend mit der Opposition gegen einen


vertragslosen Austritt aus der EU stimmte,
wurde er von Johnson aus der Fraktion
geworfen. Stewart verließ daraufhin die
Partei und kündigte an, im Frühjahr 2020
als Unabhängiger für das Amt des Londo-
ner Bürgermeisters zu kandidieren. Das
Interview führte der SPIEGELzusammen
mit einer Gruppe europäischer Journalisten
in London.

SPIEGEL:Mr Stewart, Sie wollten Chef der
Tory-Partei werden und haben nun plötz-
lich Ihre Leidenschaft für Lokalpolitik ent-
deckt. Wie das?
Stewart:Das britische Parlament hat et-
was sehr, sehr Verstörendes an sich. Ich
habe die Rede der Königin am Montag im
Parlament verpasst, weil ich stattdessen
ein Obdachlosenheim in Brixton besuchte.

Mit den Leuten dort habe ich die Queen’s
Speech im Fernsehen verfolgt. Dabei fiel
mir auf, wie seltsam diese pompöse Feier
unseres Kulturerbes ist: Jacob Rees-Mogg
in seinem Frack, die Queen in ihrer Kut-
sche, dieses ganze Gold und der Glitzer,
hinter dem sich tatsächlich eine gehässige
Politik verbirgt. Es fällt mir zunehmend
schwer, Teil davon zu sein.
SPIEGEL:Ist Ihnen das erst jetzt aufge -
fallen?
Stewart:Nein, das ging schon los, als ich
2010 erstmals ins Unterhaus gewählt wor-
den war. Ich habe eine wunderbare Biogra-
fie über einen Politiker in den Vierzigerjah-
ren des 19. Jahrhunderts gelesen, darin
heißt es, er habe das Parlament als einen
würdevollen Ort betrachtet, in dem große
Reden gehalten und wichtige Themen ernst-

84 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


»Große Worte, aber nichts


als Floskeln«


GroßbritannienDer ehemalige Tory-Hoffnungsträger Rory Stewart über den Zerfall der
britischen Politik und seine Ambitionen, Bürgermeister von London zu werden

WIKTOR SZYMANOWICZ / NURPHOTO / GETTY IMAGES
Parlamentarier Stewart: »Manches, was Populisten sagen, ist völlig richtig«
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