Der Spiegel - 26.10.2019

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ersten Mal in den Stadtrat von Rio de
Janeiro gewählt wurde. Im vergangenen
Jahr nahm er ein Sabbatical, um die So -
cial-Media-Kampagne seines Vaters zu
koordinieren. Viele in Brasilien glauben,
dass Carlos die Wahl entschieden habe.
Als Santos Cruz versuchte, den Einfluss
ultrarechter Blogger einzugrenzen, die
mit Mitteln der Regierung Fake News pro-
duzierten, schleuste Carlos zwei Vertraute
in dessen Büro, die ihm auf die Finger gu-
cken sollten. Als Santos Cruz öffentlich
forderte, mehr Disziplin im Netz durch-
zusetzen, antworteten ihm Carlos’ Follo-
wer mit einem Shitstorm. Wenig später
raunte Carlos in einem Interview ein paar
kryptische Bemerkungen in seine Rich-
tung. Dann waren Santos Cruz’
Tage gezählt.
»Das Land hat einen Mann
gewählt, nicht eine Familie«,
sagt Santos Cruz, aber er ahnt
wohl, dass er sich täuscht.
Die Bolsokratie ist ein Staat,
der ähnlich den Gesetzen eines
Clans funktioniert. Niemand
anderem vertraut Bolsonaro so
sehr wie seinen Söhnen.
Carlos, der ein unberechen-
bares Temperament besitzt,
gilt als der mächtigste von ih-
nen. Er kontrolliert den Zugang
des Präsidenten zu den sozia-
len Medien und kommandiert
eine Art »digitaler Miliz«, die
auch auf eigene Leute feuert,
wenn sie von der gewünschten
Linie abweichen. Die Entlas-
sung des Bildungsministers Vé-
lez, der ihm nicht radikal genug
erschien, hat Carlos ebenfalls
auf dem Gewissen.
Eduardo, Bolsonaros dritter
Sohn, sitzt als Abgeordneter
im Parlament. In dieser Woche wurde er
mithilfe seines Vaters zum neuen Frak -
tionschef seiner Partei im Abgeordneten-
haus befördert.
Flávio, sein Ältester, ist seit Februar Se-
nator. Er gilt als größtes politisches Talent
in der Familie. Aber seit er im Verdacht
steht, als Landtagsabgeordneter Anteile
der Gehälter seiner Angestellten einbehal-
ten zu haben, meidet er die Öffentlichkeit.
Einmal im Monat treffen sich die Brüder
in einem Schießklub. Gemeinsam haben
sie im Frühjahr ein Dekret vorangetrieben,
das vielen Brasilianern den Zugang zu
Schusswaffen erleichtert. Wenig später ver-
ließ Jean Wyllys das Land.
An einem Morgen im Oktober läuft
Wyllys über den Campus der Harvard Uni-
versity im US-Bundesstaat Massachusetts.
Wyllys ist geflohen, weil die Bedrohungen
unerträglich wurden. »Ich gehe erst zu-
rück, wenn das Ungeheuer des Faschismus
enthauptet ist«, sagt er.

Seit ein paar Wochen hat Wyllys eine
Gastprofessur. Wenn er vor seinen Studen-
ten über Fake News referiert, spricht er
vor allem über seine eigenen Erfahrungen.
Wyllys war der erste brasilianische Abge-
ordnete, der offen dazu stand, dass er Män-
ner liebt.
Für Bolsonaro war der Mann von der
linken Partei PSOL so etwas wie ein Lieb-
lingsfeind. Bei jeder Gelegenheit mobbte
und beleidigte er Wyllys, in der Cafeteria,
auf der Rolltreppe. Eine Schwuchtel wie
Wyllys, sagte Bolsonaro einmal, wolle er
nicht zum Nachbarn haben. Immer wieder
fanden Sätze wie dieser ein Echo in den
Medien, und so war es auch an dem Tag,
als das Parlament ein Amtsenthebungsver-
fahren gegen die damalige Prä-
sidenten Dilma Rousseff ein -
leitete.
In einer Abstimmung wid-
mete Bolsonaro seine Stimme
einem Offizier, unter dessen
Aufsicht Rousseff während
der Diktatur gefoltert worden
war. Augenblicke später spuck-
te Wyllys ihm dafür ins Ge-
sicht.
Dieser Tag markierte einen
Wendepunkt. Während Bolso-
naro an den Flughäfen nun
immer öfter von ekstatischen
Anhängern empfangen wurde,
pöbelten sie Wyllys immer
offener an. Kinderschänder
riefen sie ihn jetzt. Einmal,
sagt Wyllys, habe er es gerade
noch ins Auto geschafft, als
ihm ein Trupp entfesselt grö-
lender Männer auf den Fersen
war.
Dann starb seine Freundin,
die Stadträtin Marielle Franco,
die schwarz und lesbisch war,
im Kugelhagel, und Wyllys las in seinem
E-Mail-Postfach, er werde der Nächste
sein. Eine Richterin rief dazu auf, ihn an
die Wand zu stellen.
»Ich blickte auf mein Leben«, sagt Wyl-
lys, »und was ich sah, waren vier Polizis-
ten, die mich rund um die Uhr bewachten.
Ich sah ein gepanzertes Auto, das an dem
Tag, als ich am Meer die Sonnenfinsternis
sehen wollte, nicht funktionierte. Ich war
nicht mehr frei.«
Wyllys traf eine Entscheidung. Nach
zwei Legislaturperioden gab er im Januar
sein Mandat auf. Am selben Tag twitterte
Bolsonaro: »Ein großartiger Tag.«
Marian Blasberg, Jens Glüsing

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Ausland

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Video
Was Bolsonaro mit
Brasilien vorhat
spiegel.de/sp442019bolsonaro
oder in der App DER SPIEGEL

Bolsonaros
Brasilien

Regenwald-
abholzung
In diesem Jahr bereits

93%
mehr als im
Vorjahreszeitraum

Staatsverschuldung

92%
des BIP*

Arbeitslosigkeit

12%
im August 2019
* Prognose für 2019
Quellen: Inpe, IWF, IBGE

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Vögelfrei


Pornografie ist die kleine Schwester


des Patriarchats, so das Urteil radi -
kaler Feministinnen in den Siebziger -


jahren. Heute gibt es eine rasant
wachsende Szene, in der feministische


Pornos für alle entstehen. Manchmal
in einem Mietskeller ohne Wissen


des Hausmeisters. Regisseure und
Darsteller wie Candy Flip, Theo Meow,


Jiz und Shine etwa versuchen mit
ihren Filmen, an der Schnittstelle von


sexueller Befreiung, Kunst und Aktivis-
mus die avantgardistische Nische zu


verlassen. Sie wollen eine Alter native
zum männlich dominierten Main -


stream schaffen und feiern die Vielfalt.
Doch eines bleibt: der Kampf gegen


das Tabu.
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