Der Spiegel - 26.10.2019

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Gesellschaft


Die Kunst des Schneiderhandwerksbeginnt mit dem richtigen
Maß: Oberweite, Hüftweite, Leibhöhe, Ärmellänge – der erste
Schritt zum perfekten Sitz. Wer einmal mit kneifender Hose im
Büro hockte, weiß: sehr unangenehm. Jeder Körper ist eben
einzigartig, es kommt auf die richtige Passform an. Das gilt nicht
nur beim Anzugschneider, sondern auch in der Medizin: Dort
geht es zunehmend um das Wort »maßgeschneidert«, um Thera-
pien, die – so die Hoffnung – eines Tages genau an die Bedürfnis-
se des Patienten angepasst sein sollen. Krankheiten, bei denen
früher eine Therapie für alle galt, können schon heute oft diffe-
renzierter und zielgerichtet behandelt werden. Möglich machen
das zum Beispiel in der Krebstherapie neuere diagnostische
Methoden wie die molekulargenetische Untersuchung von


Tumorgewebe oder Blut sowie verschiedene bildgebende Ver -
fahren, die es so vor einiger Zeit nicht gab. So muss mancher
eine besonders aggressive Behandlung ertragen, um der Heilung
näherzukommen, anderen kann diese erspart bleiben – und
damit die Nebenwirkungen. Gut sichtbar sind die Erfolge von
besserer Diagnostik und zielgenaueren Therapien laut Deut-
schem Kinderkrebsregister bei der Zehn-Jahres-Überlebenswahr-
scheinlichkeit erkrankter Kinder unter 15 Jahren: Anfang der
Achtzigerjahre lag diese bei nur 66 Prozent. 34 Prozent starben
innerhalb der ersten zehn Jahre. Kinder, die zwischen 2006 und
2015 an Krebs erkrankten, hatten bereits eine Überlebenswahr-
scheinlichkeit von 83 Prozent: ein Trend, der sich fortsetzt, bei
nahezu allen Arten von Kinderkrebs. [email protected]

Es blüht das Geschäft derer, die Menschen davon abhalten, essen zu gehen.‣S. 62

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Konsum


Gehören Plastiktüten


verboten, Herr Bilstein?


Frank Bilstein, 48, Unternehmensberater
bei A. T. Kearney, über falsche Prioritäten
beim Klimaschutz


SPIEGEL:Herr Bilstein, auf Mallorca sind
Einwegplastiktüten von 2021 an verboten,
Indien will sie verbieten, Umweltministerin
Svenja Schulze sie auch bei uns abschaffen.
Sie haben in einer Studie Maßnahmen
zum Schutz des Klimas miteinander ver-
glichen. Was bringt ein Verbot überhaupt?
Bilstein:Ein Verzicht auf die Tüten macht
durchaus Sinn, weil sie Berge von unnöti-
gem Kunststoffmüll verursachen. Es ist
gut, wenn keine Tüten mehr in den Ozea-
nen landen. Wenn es um Klimaschutz
geht, sind die Plastiktüten aber nicht das
Problem.


SPIEGEL:Wieso nicht? Die Beutel gelten
als das Symbol für unsere umweltschäd -
liche Wegwerf- und Konsumgesellschaft.
Bilstein:Wenn man die eigene Klima -
bilanz verbessern will, bringt der Verzicht
wenig. Wenn ich ein Jahr lang keine Plas-
tiktüte benutze, spare ich drei Kilogramm
CO 2. Ein Flug von Düsseldorf nach Mal-
lorca produziert 680 Kilogramm Kohlen-
dioxid. Ich dürfte also mehr als 200 Jahre
keine Plastiktüten mehr kaufen, um die-
sen einen Flug zu kompensieren.
SPIEGEL: Wie gut wissen die
Deutschen über Klimaschutz
Bescheid?
Bilstein:Nicht gut genug.
Obwohl das Thema ständig in
den Medien ist, setzen viele
Menschen ihre Prioritäten falsch.
Das liegt auch daran, dass es bis-
her kaum eine Übersicht darüber
gegeben hat, welche Maß -
nahmen welchen Effekt haben.

SPIEGEL:Wo sehen Sie noch Potenzial,
etwas für das Klima zu tun?
Bilstein: Ein unterschätztes Thema sind
Dämmung und Heizung. Noch stärker als
in Deutschland wäre die Wirkung in den
USA und Großbritannien, da dort die
Standards nicht so hoch sind. Relativ ein-
fach kann man übrigens CO 2 einsparen,
wenn man seine Wäsche nur kalt wäscht,
bei 30 Grad Celsius. In Amerika ist es
bereits verbreiteter, warum nicht auch
hier in Deutschland?
SPIEGEL:Was unternehmen
Sie per sönlich, um das Klima
zu schützen?
Bilstein:Ich bin Vielflieger. Ich
fahre privat ein Elektroauto,
habe eine moderne Heizung
und lebe vegetarisch – durch
den Job ist meine CO 2 -Bilanz
tiefrot. Auch wenn mein
Arbeitgeber die Flugemissio-
nen kompensiert. RED

Quelle:
Deutsches
Kinderkrebsregister

Unter 15-jährige Kinder, die zwischen
1982 und 1986 an Krebs erkrankten,
hatten eine Zehn-Jahres-Überlebens-
wahrscheinlichkeit von 66 %.

In den Jahren 2006 bis 2015
waren es 83 %.

Nº 199: Krebsbehandlung bei Kindern


Früher war alles schlechter


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