Der Spiegel - 26.10.2019

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die USA übernommen. Seit dem Ende des
Kalten Krieges fragt sich die amerikani-
sche Öffentlichkeit aber, wofür dieses
Engagement eigentlich gut sein soll: Wa-
rum brauchen wir Truppen in Europa?
Können sich die Europäer nicht um sich
selbst kümmern? Nach dem Krieg im Irak
und der Finanzkrise 2008 erreichte diese
Debatte ihren Höhepunkt. Barack Obama
sah es als seine Aufgabe an, das militäri-
sche Engagement der Vereinigten Staaten
in der Welt zu reduzieren, und das gilt
auch für Trump, wobei seine Haltung
sicher noch extremer ist.
SPIEGEL: Sie haben in einem Essay ge-
warnt, dass die deutsche Frage wieder ak-
tuell wird, sollten sich die USA aus Europa
zurückziehen. Glauben Sie ernsthaft, dass
deutsche Soldaten wieder durch Europa
marschieren werden?
Kagan: Bis zum Ende des Zweiten Welt-
kriegs hatte Deutschland immer das Pro-
blem, dass es zu groß für Europa war. Ein
zentrales Element für die europäische Frie-
densordnung nach dem Krieg war die
amerikanische Sicherheitsgarantie für die
Nachbarn Deutschlands. Sie besagte, dass
die Deutschen nie wieder zu einer Bedro-
hung werden, egal was auch geschehen
mag. Diese Garantie erlaubte der Bundes-
republik einen enormen wirtschaftlichen


Erfolg, ohne die Nachbarn zu verängsti-
gen. Aber mit der Einheit wurde Deutsch-
land wieder zum bevölkerungsreichsten
Land in Europa, und es hat nun auch wie-
der das Potenzial, sich zur stärksten Mili-
tärmacht auf dem Kontinent zu entwi-
ckeln. Es geht mir also mitnichten um den
deutschen Charakter.
SPIEGEL: Sondern?
Kagan: Ich rede von objektiven Faktoren,
die die deutsche Frage auf die Tagesord-
nung zurückbringen. Sie können ja schon
heute sehen, wie die wirtschaftliche Do-
minanz der Bundesrepublik die Eifersucht
der Nachbarn weckt. Und wenn sich jetzt
auch noch die Amerikaner zurückziehen,
kann Folgendes passieren: Die Nachbarn
Deutschlands werden sich von der Nato
und möglicherweise sogar von der EU
lösen und versuchen, die wirtschaftliche
Hegemonie Deutschlands zu brechen. Das
wiederum wird in Deutschland für Ärger

und Verbitterung sorgen. Es wird nicht lan-
ge dauern, und die Deutschen fragen sich
zu Recht: »Moment mal, wir müssen uns
jetzt auch mal um uns selbst kümmern.
Das tun unsere Nachbarn ja auch.«
SPIEGEL: Wenn man Ihrer Argumentation
folgt, dann sind wir Europäer wie ewige
Teenager, die sich sofort die Köpfe ein -
hauen, sobald sich Amerika abwendet.
Kagan: Werden Sie erwachsen! Ich fände
das toll. Allerdings muss man schon einen
unverwüstlichen Optimismus besitzen, um
zu glauben, dass Europa ohne die USA
stabil und friedlich bleibt. Die EU von heu-
te ist nicht mehr die EU der Neunzigerjah-
re. Großbritannien steht kurz vor dem Bre-
xit, in Osteuropa befinden sich die Regie-
rungen von Polen, Tschechien und Ungarn
auf dem Weg in den Illiberalismus oder
sind schon dort angekommen. Und Frank-
reich ist möglicherweise nur eine Wahl von
einem Sieg der Nationalisten entfernt.
SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass
sich die USA aus der Nato zurückziehen,
falls Trump im nächsten Jahr die Wahl
gewinnt?
Kagan: Ich schließe es nicht aus. Aber wis-
sen Sie was? Für mich ist das nicht die ent-
scheidende Frage. Egal ob die USA die
Nato verlassen oder nicht – glaubt irgend-
jemand, dass unser Bekenntnis zu dem

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019 93


SERGIO RAMAZZOTTI / DER SPIEGEL
Nato-Soldaten in Afghanistan 2018: »Die Polen finde ich wirklich amüsant«

»Wir erleben einen


fundamentalen Konflikt


zwischen Freiheit


und Autoritarismus.«

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