Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 GESELLSCHAFT49


IN JEDERBEZIEHUNG


Wenn Frauen


kommen wollen


Von Bi rgit Schmid


DieFragekomme in ihrer Praxiszuverlässig
auf, erzählte mir eine Gynäkologin: Sie spre-
che mit einerPatientin überdas Stillen, den
le tzten Krebsabstrich oder die ersten An-
zeichen der Menopause, und dieFrauen be-
gännen,von ihrer Lustlosigkeit zureden. Sie
hätten einfachkeine Lust mehr auf Sex,sa-
gen sie. Ob es dagegenkein Mittel gäbe, das
sie, die Ärztin, ihnen verschreibenkönne?
DieFrauen dürfen hoffen.Seit längerem
wird nach einemViagra für dieFrau ge-
forscht, weilauch dieWissenschaft erkannt
hat, was dieFrauenärztin dauernd hört.
Frauen leiden unter ihrer fehlenden Libido.
Dafür gibt es sogar eine Diagnose: Hypo-
active Sexual DesireDisorder (HSDD),
vermindertes sexuellesVerlangen mit Lei-
densdruck. Die amerikanische Zulassungs-
behörde FDAreiht die weibliche Luststö-
rung unter die zwanzig wichtigsten Gesund-
heitsprobleme ein.
Es verwundert also nicht, dass in den USA
so eben ein luststeigerndes Mittel fürFrauen
zugelassen wurde: Bremelanotid. DieFrau
spritzt das Mittel 45 Minuten vor dem Sex
inBauch oder Oberschenkel, um Erregung
auszulösen. Bereits 20 15 kam Flibanserin
auf denMarkt, ein anderes,ursprünglich als
Antidepressivum entwickeltes «pinkVia-
gra»,das man alsTablette einnimmt.
Wobei es derViagra-Vergleich nicht rich-
tig trifft: Die blaue Pille ermöglicht Män-
nern eine Erektion. Sexuelle Lust verspü-
ren sie oft trotzdem, nur geht es ebenkör-
perlich nicht. DieFrauen hingegen möchten
ihr sexuelles Begehren zurück, und das ist
komplizierter.Anders gesagt: Männer wol-
lenkönnen, Frauen wollen wollen.
Weil das männlicheVerlangen wie ein
Lichtschalter funktioniert, jenes derFrau
aber mit der Elektronik im Cockpit eines
A380vergleichbar ist, befriedigen beide
Medikamente für die weibliche Unlust bis
jetzt nicht.Tr otzdem ist es doch nur gerecht,
dass nun auchFrauen geholfen werden soll,
die in sich eine grosse Öde verspüren.
Schon klar: Eine lustloseFrau ist noch
nicht krank. EinPaar, das die lutherische
Pflichtvorgabe von zweimal dieWoche nicht
einhält, kann es trotzdem gut haben. Man-
cheMenschen leben ohne Sex, ohne dass
ihnenetwas fehlt. Ichrede hier aber von
Frauen, die wissen, dass es da noch etwas
anderes gibt, weil sie es einst erlebt haben:
Erregung, Ekstase, Erfüllung. Sie fühlen
sich abgetrennt vom Leben, vermissen das
Gefühl «danach», die Nähe,Verbundenheit,
Fülle. Mit Sex bestätigt mandie Beziehung.
Doch sich mit Chemie in Stimmung brin-
gen?Dasmissfällt vielen.Frauen würden das
wieder nur für die Männer machen, begeh-
ren Kritikerinnen auf. Sie unterwürfen sich
selbst im Bett einem Leistungsdiktat.Auch
die zitierte Gynäkologin findet, Hormone
sollten nicht leichtfertig eingenommen wer-
den, um den Lifestyle zu verbessern.
Mir scheint, mit Moralisieren istkeinem
Leiden abgeholfen.Das gilt auch für die
Sextherapeuten, die als natürliches Aphro-
disiakum Granatäpfel, ein GlasWein oder
Kuschelnempfehlen. Der Höhepunkt wird
bei solchemRat oft abgewertet, indem man
Fraueneinredet, derWeg sei das Ziel.
Man muss ja nicht befürchten, dass das
neue Medikament baldFrauen weltweit be-
tört.Dafür sind die Nebenwirkungen wie
Übelkeit zustark. EinViertel derFrauen
verspürte zwar mehr Lust, nachdem sie sich
Bremelanotid injiziert hatten. Aber viel-
leicht war die Spritze eher abtörnend, und
es waren dieFrauen selber, die ihre Lust
produzierten. Denn auch der Placeboeffekt
war ausgeprägt, als ob dieAussicht auf stei-
gendes Begehren bereits ein Antrieb wäre.
DieReizekommenvon aussen, die Lust
von innen. Ist das nicht aufregend?

BESONDERE KENNZEICHEN


Der Botschafter von Notre-Dame

Schon vor dem Brand wardie Pariser Kathedrale in einem


schlechten Zustand. Michel Picaud hat die Amerikaner


dafür sensibilisiert und gemerkt: Ihnen liegt so viel


an der Notre-Dame wie den Franzosen. VON NINABELZ


Der15.April hat Michel Picauds Leben verändert.
Zunächst war da der Schock, dieTr auer. Er war an
diesem Montagabend schon nach Hause zurück-
gekehrt, in einenVorort vonParis, als ihn einKol-
lege anrief: Die Notre-Dame stände in Flammen.
Picaud eilt zurück zur S-Bahn, seineFrau begleitet
ihn. Als sie gegen halb neun auf demVorplatz an-
kommen, ist der Spitzturm schon eingestürzt. Sie
bleiben bis nach Mitternacht, fassungslos.
Am nächstenMorgen ist Michel Picaud über-
wältigt, nun aber aus einem anderem Grund. In sei-
ner Mailbox sind über NachtTausende von E-Mails
aus Amerika eingetroffen. Die Absender haben
ein Anliegen:Sie wollten spenden, damit die No-
tre-Dame wieder aufgebaut werdenkönne. Seither
hat Picaud so viel zu tun wie lange nicht.Dabei ist
er eigentlich pensioniert.


Der Tipp eines Amerikaners


Michel Picaud und die Kathedrale von Notre-
Dame: Siekennen sich schon lange. So zumindest
beschreibt der 65-Jährige schmunzelnd seine Be-
ziehung zu der meistbesuchten Sehenswürdigkeit
Frankreichs.Als Student wohnte er in einem Zim-
mer mit Sicht auf die südlicheFensterrose, der in
Paris geborene Katholik hat die Kathedrale unzäh-
lige Male besucht. Aber erst in seiner zweiten Kar-
riere beschäftigt er sich fast täglich mit ihr.
Das kam so:Vor dreiJahren, bereits inRente
und vollerTatendrang, bot er der Diözese von
Paris seine Dienste an – nicht primär wegen sei-
nes Glaubens,sondern weil er etwas für seine
Stadt tun wollte. Die Diözese war kurz davor von
einem amerikanischen Historiker auf den schlech-
ten baulichen Zustand der Kathedrale aufmerk-


sam gemacht worden. DerHistoriker erzählte, wie
bedeutungsvoll die Notre-Dame für viele seiner
Landsleute sei.Warum dieFranzosen dies nicht
nutzten und imAusland Spenden für dieRenova-
tion sammelten?
Die Geistlichen waren zurückhaltend gegen-
über derIdee, zumal der Staat für den Unter-
halt der Gebäude zuständig ist und es eine Stif-
tung zu diesem Zweck nicht einmal inFrankreich
gab.Sie erzählten Picaud davon, und dieser zögerte
nicht lange. Er hatte auch abgesperrteRäume der
Kathedrale besucht und die Dringlichkeit sofort
erkannt:Das Dach desSpitzturmswar undicht, die
St rebebögen beschädigt.Während seines Berufs-
lebens in derTelekommunikations- und der Infor-
matikbranche war er viel gereist. Er kannte und
mochte dieAmerikaner und ihrenLebensstil, auch
die Sprachewarkein Problem.
ImFrühling 20 17 wird die Stiftung «Friends of
Notre-Dame deParis» vom amerikanischenFinanz-
ministerium als gemeinnützige Organisation an-
erkannt. Die Arbeit kann losgehen.Alle sechs bis
achtWochenreist Picaud als ihr Präsident seither
in die USA und organisiertFundraising-Abende.
Immerhin kann er auf die Unterstützungeines wei-
terenFreiwilligen zählen – und auf die französischen
Vertretungen in den USA, die ihm einen offiziel-
lenRahmen geben.Das Interesse ist überraschend
gross und wird noch grösser, als die amerikanischen
Medien auf die Stiftung aufmerksam werden.
ImFrühling 20 18 ruft ihn dasAuktionshaus
Christie’saus NewYork an. «Sie boten mir eine
Bühne zumAuftakt ihrer ClassicWeek, imRocke-
feller Center», sagt er. «Da sagte ich natürlich nicht
Nein.»Vor rund hundertPersonen erzählt er von
den Herausforderungen, dasBauwerk in Schwung
zu halten.Dass die zwei Millionen Euro proJahr,
die der Staat aufwende, niemals ausreichten.Das
Publikum habe unglaublich vieleFragen gestellt,
wieer sich erinnert. Am Ende hatte er Zusagen
über 15000 Dollar. Zu wenig, umdenAufwand und
dieReisespesen zurechtfertigen.Bis eineWoche
später eine anonyme Spende von einer Million ein-
traf. In zweiJahren sind rund zwei Millionen Dollar
zusammengekommen. Die meisten Spenden sind
kleine Beträge.Aber deren Summe ist knapp mehr
als das, was die gleichzeitig gegründete französische
Schwesterstiftung eingebracht hat.

Spendenliegt Amerikanern in der DNA


Michel Picaud istkein umtriebigerVerkäufer, der
mit seinen Beziehungen prahlt–imGegenteil. Er
ist ein zurückhaltenderTyp, fast bescheiden.Wenn
er erzählt, wie er schonvordem Brand 800 ameri-
kanische Spender für sich gewinnenkonnte, dann
klingt das,als hätte es sich einfach so ergeben. Und
doch braucht es Hartnäckigkeit, um demKultur-
ministerium die Zusage abzuringen, seineAus-
gaben für die Notre-Dame zu erhöhen. «Die ers-
ten zweiJahre war ich Mr. Nobody», sagt er. Heute
wirder direktkontaktiert. In den USA kanner
inzwischen auch auf das Netzwerk seiner elfVor-
standsmitglieder bauen.
«Der Brand hat vieles verändert», sagt Picaud.
Zu seinem Bedauern schafft er es nicht mehr, jedem
einzelnen der amerikanischen Spender persönlich
zu antworten. Sie trugen seit AprileineSumme von
etwas mehr als acht Millionen Dollar zusammen.
Picaud bestätigt, dass im Gegensatz zu vielenFran-
zosen die Amerikaner auch gleich zahlen. Sie hät-
ten zudem nie den im laizistischenFrankreich ver-
breitetenVorbehaltgehabt, für eine Kirche Geld zu
spenden. Er kramt in seinen Unterlagen nach einem
Brief, den er in denWochen nach dem Brand aus
Wyoming erhalten hat. Der Absender schreibt, wie
er zuTr änen gerührt gewesen sei, als er die Bilder
der brennenden Kathedrale gesehen habe. Diese
sei ein Schatz derWelt, der die Kraft des mensch-
lichen Geistes verkörpere.Seine Spende begrün-
det der Mann auch damit, dass dieFranzosen die
amerikanische Unabhängigkeit unterstützt hätten.
Dieser Brief stehe für viele, die er erhalte, sagt
Picaud. Es gehenicht unbedingt umReligion.Viele
seien zudem selbst hier gewesen, mit derVerlob-
ten, derFamilie – oder als Student. «Die Amerika-
ner hängen mindestens so an der Notre-Dame wie
dieFranzosen», sagt er. Und Spenden sei irgend-
wie in ihrer DNA.
Vor dem15.April lautete Picauds Ziel, eine
Summe von150 Millionen Euro in zehnJahren
zu sammeln.Jetzt brauche es eher eine Milliarde,
sagt er. Undwenn es nach Präsident Macron gehe,
müsse das Geld bis in fünfJahren aufgetrieben sein.
Picaud ist skeptisch, auch wenn inzwischen mehrere
Organisationen schon rund 700 Millionen Euro zu-
gesagt bekommen haben.Aber auch er wird seinen
Einsatz nichtreduzieren.Von einer Agentur in New
York hat er einenFlyer entwerfen lassen, der die
Zerstörung im Innern der Kathedrale zeigt. «No-
tre-Dame deParis needs us», steht vorne drauf.Als
Nächstes will er eine Stiftung in Kanada gründen.

Michel Picaud verbindet eine lange Geschichte mit Notre-Dame. ALEX CRETEY SYSTERMANS FÜR NZZ

Vor dem 15.April lautete


Picauds Ziel, ei ne Summe


von 150 Millionen Euro


in zehn Jahren zu sammeln.


Jetzt brauche es


eher eine Milliarde, sagt er.

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