Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
verbrauchten Energie aus Windkraft. Die Kern-
kraft, die in den offiziellen Statistiken ebenfalls
als Niedrigemissionsenergie aufgeführt wird,
steuerte 7,9 Prozent bei.
Wie in Deutschland gibt es in England Vorbe-
halte gegen Windräder an Land. 2015 gab die
konservative Regierung von David Cameron den
Gemeinden ein weitgehendes Vetorecht gegen
neue Anlagen. Die Bauanträge gingen daraufhin
drastisch zurück.
Auf See geht der Ausbau weiter, und in Schott-
land gelten andere Regeln als in England: Hier
ist nicht nur die Bevölkerungsdichte geringer,
sondern auch die Akzeptanz in der Bevölkerung
größer – nicht zuletzt, weil viele Windräder im
Gemeinschaftsbesitz sind. Die Schotten produ-
zieren so viel Elektrizität aus Windkraft, dass alle
Haushalte der Region damit versorgt werden
können. In Orkney erzeugen die Windräder 20
Prozent mehr, als auf den Inseln verbraucht wer-
den kann. Eine Tatsache, die viele Orcadians
stolz macht.
Deswegen hegt Ian Johnstone von dem auf er-
neuerbare Energien spezialisierten Beratungs-
unternehmen Aquatera die Hoffnung, dass man
ohne große Probleme genügend Bewohner von
Orkney für das neue Projekt ReFLEX begeistern
kann. Sie sollen sich bereit erklären, ihre Strom-
versorgung umzustellen, sich ein Elektroauto
vor das Haus stellen oder eine Batterie einbauen
lassen – miteinander verbunden, sollen diese
Elemente Stromschwankungen abfedern. „Hier

auf Orkney kennen wir uns bestens mit Energie
aus“, sagt Johnstone. „Wir produzieren mehr,
als wir verbrauchen können. Wo wir Fortschrit-
te machen müssen, ist die Speicherung von
Energie.“ Das ist ein Thema, das nicht nur Ork-
ney betrifft. „ReFLEX soll nicht nur hier funk-
tionieren, sondern auch in anderen Gegenden,
das ist klar das Ziel“, sagt er. Das Projekt sei am-
bitioniert – aber schließlich habe man Erfah-
rungen: Die zahlreichen Projekte, die in den
Jahren zuvor auf Orkney stattfanden, „waren
quasi Vorläufer für ReFLEX“, sagt Johnstone.

Die Erkenntnis
Seit Jahren schon wurde in Orkney an Lösun-
gen gearbeitet, um den Stromüberschuss sinn-
voll zu verwenden und gleichzeitig Alternativen
zur Windenergie zu erforschen. 2003 wurde
das Forschungszentrum European Marine
Energy Centre EMEC ins Leben gerufen, das
ebenfalls an ReFLEX teilnimmt. In einer klei-
nen Bucht nahe Stromness, der zweitgrößten
Stadt der Orkney-Inseln, befindet sich „Billia
Croo“, ein Test areal für verschiedene Technolo-
gien zur Ausnutzung der Wellen- und Gezeiten-
energie. Derzeit belegt nur Microsoft eine der
fünf Teststationen unter Wasser. Der US-Kon-
zern hat hier eine Serverstation auf den Mee-
resgrund gelassen, um zu testen, wie die Küh-
lung von Großcomputern mit Meerwasser funk-
tionieren kann. Mehr als 90 Prozent der
Energie, die derartige Stationen benötigen, ge-
hen in die Temperaturregelung der Server. Bis
vor Kurzem hatten noch weitere Unternehmen
die Teststation „Billia Croo“ genutzt. Aber seit
die britische Regierung Wind und Solarenergie
stärker fördert, ist das Interesse an der Energie-
quelle Meer gesunken.
Abschreiben dürfe man die See als Energie-
quelle nicht, betont Neil Kermode, Chef von
EMEC. Setze man nur auf eine Form der Ener-
gie, sei die Gefahr von Stromausfällen größer,
warnt er. „Wenn man mehrere Technologien
zusammenführt, entsteht mehr als nur die
Summe der Elemente.“
EMEC hatte ebenfalls schon an früheren Pro-
jekten teilgenommen, in denen die Forscher
das Problem der Energiespeicherung angegan-
gen waren. Auf zwei Inseln Orkneys wurden
Elektrolyse-Stationen mit einer Leistung von
500 Kilowatt errichtet, in denen mit Hilfe von
Wind- und Wasserenergie Wasserstoff produ-
ziert wird. In grauen Metallbehältern wird die-
ser gespeichert und dann mit Lastwagen in den
Hafen von Orkneys Hauptstadt Kirkwall ge-
bracht. Dort wartet der Wasserstoff hinter ei-
nem schlichten Bauzaun auf seinen Einsatz.
Legt ein Schiff an, wird er in Strom umgewan-
delt und dieser in die Batterien an Bord geleitet.
Das Projekt heißt „Surf ‘n‘ Turf “ – und habe
„einige unerwartete Fragen“ aufgeworfen, er-
zählt McNeill. So seien einige Straßen auf
Orkney nicht für schwer beladene Lastwagen
zugelassen gewesen. Außerdem müssen bei der
Nutzung von Wasserstoff strikte Sicherheitsvor-
schriften beachtet werden. Deswegen wird der
Wasserstoff derzeit noch nicht für den Antrieb
von Passagierfähren, sondern lediglich für Zu-
satzstrom auf Transportschiffen genutzt. Später
einmal sollen die vier Fähren, die Orkney mit
dem Festland verbinden, auf Wasserstoff-An-
trieb umgestellt werden. „All die Erfahrungen
aus dem Projekt „Surf ‘n‘ Turf “ werden uns
aber bei anderen Projekten helfen. Die Hoff-
nung ist, dass die Grundidee auf andere Zwecke
übertragen wird“, sagt McNeill. Wasserstoff sei
sicher nicht die Antwort auf alle Energieproble-
me – aber Teil der Lösung.
Auch Orkney ist noch weit davon entfernt, ei-
ne vollkommen CO 2 -neutrale Inselgruppe zu
sein – zu viele herkömmliche Autos fahren noch
auf den engen Straßen, und auch die Fischer-
boote tuckern mit dem charakteristischen Ge-
räusch von Dieselmotoren aufs Meer hinaus.
Aber immerhin tragen die zwei Stromgenerato-
ren, die im alten Kraftwerk in Kirkwall stehen,
nicht zum CO 2 -Abdruck der Orcadians bei. „Die
werden nur im Notfall angelassen“, sagt
McNeill. „Und unser letzter Stromausfall ist
mehrere Jahre her.“

ge Wasserstoff-Brennstoffzelle. Energie soll
„günstiger, grüner und für jeden flexibler zu-
gänglich gemacht werden“, verkündete die da-
malige Staatssekretärin für Energie, Claire Per-
ry, zum offiziellen Projektbeginn im Frühjahr.
„Die Lehren aus dem Projekt werden eines Ta-
ges in Großbritannien angewandt und in die
Welt exportiert.“ Derart intelligente Netze seien
„entscheidender Baustein unserer Industrie-
strategie“.
England will bis zum Jahr 2050 emissionsneu-
tral werden. Schottland, das bei der Energiepo-
litik eigene Wege gehen kann und nicht den Vor-
gaben aus London folgen muss, plant sogar,
schon 2045 klimaneutral zu sein. 2013 wurde im
britischen Unterhaus der Ausstieg aus der Ener-
giegewinnung durch Kohlekraftwerke beschlos-
sen. Zum Ausgleich sollte nicht nur mehr erneu-
erbare Energie gewonnen werden. Auch neue
Kernkraftwerke wurden beschlossen. Bisher de-
cken Öl und Gas drei Viertel des gesamten Ener-
gieverbrauchs. Gaskraftwerke erzeugen doppelt
so viel Strom wie Windräder und Solarpaneele.
Geheizt und gekocht wird vor allem mit Gas, das
größtenteils aus Norwegen und Qatar importiert
wird.
Dabei scheint die Nutzung der Windenergie in
großem Stil naheliegend: Über die britischen In-
seln fegt konstant der Wind. Die Steigerungsra-
ten in der Sparte waren in den vergangenen Jah-
ren eindrucksvoll, aber auf sehr niedrigem Ni-
veau. 2018 kamen lediglich 2,2 Prozent der

Orkney-Inseln im
Norden Schott-
lands: Wenige
Menschen, viel
Wind.

Installation
eines Gezeiten-
kraftwerks:
Experimente für
sauberen Strom.

Colin Keldie


K

LI


MA

PIONI
ER
E

SERIE


Das Handelsblatt hat
Klimapioniere und ihre
Projekte sowie die
Umwelt strategie ihrer
Heimatländer vorge-
stellt. Mit dem Text
auf dieser Seite endet
die Serie.

Die Teile der Serie:
Norwegen: CO 2 in
großem Stil verbuddeln
Südafrika: Die
Wiedergeburt der
alternativen Energien
Schweden:
CO 2 -Steuer und
Wachstum müssen
kein Widerspruch sein
Frankreich: Eine
Kleinstadt zeigt,
welche Chancen in der
Energiewende liegen
Spanien: Das Klima-
wunder von El Hierro
Abu Dhabi:
Energiewende in
der Wüste
Israel: Kampf um
den Quell des Lebens
Japan: Wie das
Land zur führenden
Wasserstoffnation
geworden ist
Australien: Der Konti-
nent geht eigene Wege
China: Radikale Wende
hin zur E-Mobilität
Schweiz: Präzise Ziele
für jedermann
Großbritannien: Wind,
Wellen, Wasserstoff
Transport von
Wasserstoff:
Neue Energie auf
traditionellem
Colin Keldie Weg.

Wenn man


zwei


Technologien


zusammen-


führt, entsteht


mehr als nur


die Summe


der beiden


Elemente.
Neil Kermode
Managing Director von
Emec

Zum Versenken
vorgesehener
Microsoft-
Server: Kosten-
lose Kühlung.

Microsoft


Emec


Wirtschaft & Politik
DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203^11

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