Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
„Das ist ein Thema, wo wir noch
in Arbeitsgruppen sind, wo wir
noch in Verhandlungen sind,
weil das auch ein schwerer
Eingriff in das Rentensystem ist.“
Ralph Brinkhaus, Unionsfraktionschef, äußert sich
bedeckt zum Streitthema Grundrente.

„Hermesbürgschaften müssen
nicht gewährt werden in einer
Situation, wo wir ja wissen,
dass in der Türkei weiterhin
Deutsche festgehalten werden.“
Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef, bringt einen
Stopp der Exportfinanzierung ins Gespräch.

Stimmen weltweit


Der in London erscheinende „Guardian“ stellt
fest, dass jedermann die Nase voll hat vom
Brexit, dass es aber besser wäre, die Briten
blieben in der EU:

Z


ugegeben, der Brexit macht alle verrückt.
Wir Briten schulden allen unseren Freun-
den in Europa eine ernsthafte Entschuldi-
gung, eine Flasche Whisky und eine Eintrittskar-
te für eine Aufführung des „Hamlets“ der Royal
Shakespeare Company. Für die Briten bedeutet
Hamlet, sich den Kopf zu zermartern, ob der
Brexit Sein oder Nichtsein bedeutet. (...) Viele
europäische Freunde meinen jetzt, dass es der
EU ohne Großbritannien besser gehen würde.
Doch wenn Großbritannien die EU jetzt verlässt,
wird es fünf Jahre dauern, bis sich zeigt, wie die
neuen wirtschaftlichen Beziehungen zur EU aus-
sehen werden, und weitere fünf Jahre, ob Schott-
land das Vereinigte Königreich verlässt. In dem
Zeitraum werden sich die EU und die Reste vom
Vereinigten Königreich auseinanderentwickelt
haben. (...) Wenn der Brexit ökonomisch
schlecht läuft für die Briten, dann wird das für ei-
ne unglückliche und schlecht gelaunte Beziehung
zu den Ländern jenseits des Kanals sorgen, was
sich wiederum negativ auf die gemeinsame Au-
ßen- und Sicherheitspolitik auswirken könnte.

Zum Brexit-Streit meint die niederländische
Zeitung „de Volkskrant“ am Montag:

D


ie Brexit-Befürworter schreien nun Zeter-
mordio. Ihrer Ansicht nach hat das Parla-
ment das britische Volk verraten. Doch
den Rückschlag (am Samstag) haben Boris John-
son und die Erz-Brexit-Anhänger sich selbst zu
verdanken. Johnson hat das Vertrauen in die Re-
gierung untergraben, indem er einerseits erklär-
te, sich an das Gesetz zu halten, das ihn ver-
pflichtet, bei der EU um einen Aufschub zu bit-
ten, wenn das Austrittsabkommen noch nicht
vom Parlament gebilligt wird, und andererseits
darauf pochte, einen solchen Aufschub nicht zu
beantragen. (...) Man sollte hoffen, dass die EU-
Regierungschefs den Briten noch einen Aufschub
gewähren. Allerdings nur einen kurzen. Es ist
nun an den Briten, deutlich zu machen, was sie
wollen: den neuen Deal mit der EU oder einen
AP, dpa (2)Austritt aus der EU ohne Deal.

Die Londoner „Times“ kommentiert am Montag
das Ringen um den Brexit im britischen
Unterhaus:

W


enn die Abstimmung am Samstag eine
Orientierungshilfe bietet, dann
scheint es, dass Boris Johnson die
Konservative Partei erfolgreich hinter seinem
Deal mit der EU vereint hat. Selbst Abgeordnete,
die er aus der Tory-Fraktion ausgeschlossen hat-
te – einige von ihnen stimmten für Oliver Letwins
irrwitzigen Zusatzantrag, der die Saga einmal
mehr verlängert hat –, scheinen nun für seinen
Deal votieren zu wollen. Die Marge zwischen Er-
folg und Misserfolg wird voraussichtlich sehr
klein sein, und alles könnte davon abhängen, ob
eine ausreichende Zahl von Labour-Abgeordne-
ten gegen den Fraktionszwang ihrer Partei ver-
stößt und den Deal unterstützt. Es würde einiges
an Mut von ihnen verlangen. Aber sollten sie es
tun, verdienten sie höchstes Lob.

A


m Sonntagabend haben sich die Spitzen der
Großen Koalition getroffen, und das hand -
festeste Ergebnis, was Union und SPD danach
mitzuteilen hatten, war ein ungefährer Termin für ihre
Halbzeitbilanz. Anfang November soll diese nun vorge-
legt werden. Zudem hat man über den Fahrplan für das
bereits beschlossene und zigfach verhandelte Klima -
paket gesprochen. Ein Koalitionsausschuss, der solch
ein Ergebnis produziert, ist aber auch für sich genom-
men schon ein kleines Zeugnis für den derzeitigen Zu-
stand des schwarz-roten Regierungsbündnisses.
Die Koalitionspartner sind vor allem mit sich selbst
beschäftigt. Die SPD sucht ein neues Führungsteam.
Nach 23 Regionalkonferenzen stimmen die Mitglieder
derzeit ab, am Samstag soll das Ergebnis verkündet
werden, eine anschließende Stichwahl ist wahrschein-
lich. Vom Ausgang hängt dann auch die Zukunft der Ko-
alition ab. Ob Vizekanzler Olaf Scholz oder ein eher
GroKo-kritischer Kandidat gewinnt, dürfte für die Frage
des Regierungsverbleibs der Sozialdemokraten ent-
scheidender sein als jedes selbst geschriebene Zwi-

schenzeugnis der Regierung.
Der nervöse Grundzustand der SPD färbt auch auf
den Koalitionspartner ab. Die Union ist zwar in Umfra-
gen doppelt so stark wie die SPD, für ihre Verhältnisse
und eigenen Ansprüche aber immer noch erschreckend
schwach. Und solange die Union unter 30 Prozent ver-
harrt, wachsen intern die Zweifel an den Qualitäten der
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Kanzler-
kandidatenfrage ist offen. Die Union hat nach vier Re-
gierungen unter Kanzlerin Angela Merkel einige mögli-
che, aber eben keinen zwingenden Kandidaten mehr.
Unter diesen Bedingungen verwenden die Spitzen
von Union und SPD viel Zeit und Energie auf partei -
interne Machtfragen, auf Überlegungen, was der Koaliti-
onspartner machen könnte und wie man selbst darauf
reagieren sollte. Und wenn nebenbei regiert wird, dann
fällt das Ergebnis eher dürftig aus so wie beim Klima -
paket. Und so tat die SPD schon nach wenigen Tagen
kund, dass sie eigentlich selbst nicht zufrieden ist mit
den Klimamaßnahmen. Auch das ist ein Muster dieser
Koalition: Wenn sie liefert, dann zerredet sie die eige-
nen Beschlüsse umgehend selbst.
Nun gibt es seit jeher immer mal wieder Phasen, in
denen Koalition und Parteien sich vor allem miteinan-
der beschäftigen und aneinander abarbeiten. Doch bei
dieser Regierung ist das nun seit dem Start mehr oder
weniger fast durchgehend der Fall. Und diese nicht en-
den wollende Selbstbeschäftigung der Großen Koalition
fällt ausgerechnet in eine Zeit, in der Deutschland in
wirtschaftlich unruhiges Fahrwasser steuert und drin-
gend eine tatkräftige Regierung bräuchte.

Große Koalition


Mit sich selbst beschäftigt


In einer wirtschaftlich zunehmend
unruhigen Zeit kreist die
schwarz-rote Koalition um ihre
vielen offenen Führungsfragen,
kritisiert Jan Hildebrand.

Der Autor ist stv. Leiter des Hauptstadtbüros.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203^15


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