Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1

LI E BE


Ein Berliner Ehepaar kauft eine Zeitung, ohne Ahnung vom Pressemarkt.


Dafür werden die beiden verhöhnt. Wie unromantisch! VON PETER DAUSEND


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ZEILEN
...

Menschen, die etwas wagen, werden nicht zu­
letzt deshalb oft angegriffen, weil die Klein­
mütigen erkennen, was ihnen fehlt. Das erlebte
Willy Brandt, als er die Ostpolitik erfand. Das
erfuhr Greta Thunberg, als sie anfing, die Welt
zu retten. Und das darf, um zu den wirklich
wichtigen Dingen zu kommen, jeder Bundesli­
ga­Trainer durchstehen, der mit Offensiv­Fuß­
ball begeistern will und dann zweimal verliert.
Verhöhnt werden nun auch zwei Menschen,
Holger und Silke, die schier Aberwitziges anpa­
cken: Sie wollen eine Zeitung retten, ohne vorher
Zeitungsrettungswissenschaft studiert zu haben.
Wie verrückt ist das denn?

Holger sieht mit seinem beeindruckenden
Rauschebart ein wenig so aus wie der mittelalte
Leo Tolstoi, und Silke antwortet auf die Frage,
ob sie sich denn mal mit dem Berliner Zeitungs­
markt beschäftigt habe: »Welcher Markt?«
Letzteres ist insofern bemerkenswert, als
Silke und Holger, die gemeinsam – wie nun
öfter zu lesen war – das »Unternehmerpaar
Friedrich« ergeben, gerade die Berliner Zeitung
gekauft haben. Und Ersteres, weil vom leibhaf­
tigen Tolstoi ein Zitat überliefert ist, das be­
schreibt, wie Holger und Silke nun fühlen soll­
ten, wenn sie nachts halbwegs ruhig schlafen
wollen: »Das Glück besteht nicht darin, dass du

tun kannst, was du willst, sondern darin, dass
du auch immer willst, was du tust.«
Die Friedrichs haben die Berliner Zeitung
aus zwei Gründen gekauft: 1. Weil sie es konn­
ten. Und 2. Weil sie es wollten.
Zu 1.: Die gelernte Bürokauffrau Silke, 47,
aus Sachsen­Anhalt hat einst in Berlin das
E­Werk als Veranstaltungsort etabliert und leitet
heute eine der bekanntesten internationalen
Schulen der Stadt. Der gelernte Werkzeugmacher
Holger, 53, aus Berlin hat nach einem Infor­
matikstudium eine IT­Firma gegründet und
später an SAP verkauft. Bislang konnten die
Friedrichs von ihrem Geld nur dreimal am Tag

warm essen. Jetzt können sie auch noch ihre
eigene Zeitung dabei lesen. Lebensbrüche
müssen nicht immer mit Leid verbunden sein.
Zu 2.: Die beiden wohlhabenden Ostdeut­
schen retten mit ihrem Kauf die notleidende
Ostberliner Zeitung vor dem Ableben im zwar
keuchenden, aber immer noch bitterkalten Spät­
kapitalismus. Vorerst zumindest. Dass die beiden
keine Ahnung von Zeitungen haben, macht ihr
Handeln nicht nur irrwitziger, sondern auch
romantischer. Ist das Irrationale nicht das Wesen
wahrer Liebe? Zwei Ossis, die an die Zukunft
ostdeutscher Identität in gedruckter Form glau­
ben: Man muss kein Print­Journalist mit Wohn­

sitz im Prenzlauer Berg sein, um das großartig zu
finden. Aber es hilft dabei.
Doch etwas anderes ist noch bewunderns­
werter. Als Holger vor einem halben Jahr in der
Führungsetage von DuMont einen Vortrag über
Technologiemanagement hielt, brachte er als
Honorar die Zusage mit nach Hause, den Berli­
ner Verlag, die Mutter der gleichnamigen Zei­
tung, kaufen zu dürfen. Ein Mann denkt groß.
»Andere kommen mit einem Ring«, sagt Silke
dazu, »meiner bringt einen Verlag an.« Bei aller
Begeisterung für die Großzügigkeit seiner Mit­
bringsel muss man als Verheirateter an Holger
aber eins kritisieren: Der Kerl verdirbt die Preise.

Peter Dausend
ist Politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

STREITFRAGE

Zu einem Streit gehören immer zwei


(Folge 4) Zwei Tigerweibchen im Revierkampf. Fotografiert von Marion
Vollborn im Reservat Tiger Canyons in Philippolis, Südafrika

Wenn »how dare you« das neue »Yes we can« ist,
wie die klügsten Köpfe im Nachgang zu Greta
Thunbergs dramatischem UN­Rhetorik­Gipfel
getwittert haben, dann steht es schlecht um
eine freie Gesellschaft. »Wie können Sie es wa­
gen?« ist eine museale Drohung aus dem Wör­
terbuch des Oberstudienrats, die wie so viele
autoritäre Gesten, Zöpfe und Floskeln von den
68ern mit ihren Sit­ins und Kinderläden abge­
räumt wurde.
Wie konnten sie es wagen? Ganz einfach,
weil sie es konnten. Gefragt wird eigentlich nur
derjenige, der es bereits gewagt hat, zum Leid­
wesen derer, denen das nicht passt.
Fortschritt entsteht in der Regel, wenn das
Über­Ich in den politischen Debatten Sende­
pause hat. Innovation ist anarchisch. Pioniere
agieren unorthodox. Die neue Inbrunst für das
Zuchtmeisterliche, wie hier in Luisa Neubauers
Tweet, beklemmt insbesondere jene Unbelehr­
baren, die in der Rebellion Spaß und In spi ra­
tion gleichermaßen suchen. Dass die aktuellen
jugendlichen Subkulturen (und ihre ergrauten
Fanclubs) die sittliche Restauration gegen die
Rebellion in Stellung bringen, ist ein histori­
sches Datum. Es verengt Denkräume.
Die moralische Erpressung (Zorn, Tränen,
Apokalypse) untergräbt das Ideal des kühlen,
vernunftzentrierten Dialogs unter mündigen
Bürgern. War es früher das Recht der Jugend,
verantwortungsarm zu genießen, versagt sich
der strebsame Teil der Jugend diese Freuden.
Wer »how dare you?« sagt, muss mit einem
»f*** you« als Antwort rechnen, zumindest
dann, wenn die Autoritätsallergie nicht voll­
kommen aus dem politischen Reservoir der
Gegenwart vertrieben wird. Nach 68 kam
Punk, und die Frage ist eigentlich nur, wann
und wo ein frecher Teenager über den Greta­
Schriftzug auf dem T­Shirt ein »I hate« taggt,
wie Johnny Lydon das 1975 in London auf
seinem Pink­Floyd­Shirt tat, um dann mit den
Sex Pistols das Fenster zur Zukunft weit aufzu­
reißen – weil er alles wagte.

Ulf Poschardt
ist Chefredakteur
der Welt-Gruppe.
An dieser Stelle
schreibt er im
Wechsel mit
Anja Reschke,
der Moderatorin
der ARD-Sen-
dung »Panorama«

VERTWITTERT

@Luisamneubauer
#HowDareYou?
getwittert am 23. September 2019 um 21.03 Uhr

Das ging aber daneben! Unser
Kolumnist Ulf Poschardt
über den Twitter­Tiefpunkt
der Woche

1


Liter Bier


= 11,8 Euro


1


To n n e C O
²

= 10 Euro


20 Millionen Euro zahlen die gesetzlichen Kassen
jedes Jahr dem Vernehmen nach für homöopathi­
sche Mittel. Diese Summe findet Gesundheits­
minister Jens Spahn (CDU) »schon okay«, wie er
vergangene Woche erklärte. So viel Lässigkeit ist
erstaunlich – nicht nur im Umgang mit einem
hohen Millionenbetrag, sondern vor allem im
Umgang mit dem Vertrauen der Versicherten in
eine verlässliche und faktenbasierte Gesundheits­
politik. Als Gesundheitsminister müsste Spahn
doch geläufig sein, dass die wissenschaftliche Er­
kenntnislage der Homöopathie über den Placebo­
effekt hinaus keinerlei Wirkung zuspricht.
Trotz dieser fehlenden medizinischen Evidenz
steht es gesetzlichen Kassen seit einer Neuregelung
aus dem Jahr 2012 frei, Homöopathika zu erstatten.
Die Idee dahinter war nicht therapeutisch motiviert,
sondern in erster Linie ökonomisch: Durch unter­
schiedliche Leistungskataloge sollte der Wettbewerb
zwischen den Versicherungen gestärkt werden. Das
ging im Fall der Homöopathie gründlich schief.
Denn die Folge war, dass fast alle Kassen die Erstat­
tung homöopathischer Präparate einführten. Sie ver­
sprechen sich einen Marketingnutzen, um mit der
Homöopathie­Erstattung junge, gut verdienende
Mitglieder zu werben.
Der Schaden ist aber immens, wenn Kassenchefs
vor lauter Marketing nicht mehr zu realisieren schei­
nen, dass sie keinem Discounter, sondern einer ge­
setzlichen Krankenkasse vorstehen. Mal davon abge­
sehen, dass aller Wettbewerb dahin ist, wenn alle
Kassen letztlich doch wieder das Gleiche anbieten,
ist das fehlgeleitete Vertrauen in die Homöopathie
eine schwere gesundheitspolitische Hypothek. Sie
geht auch auf eine gesetzliche Adelung als Arznei­
mittel und den Glaubwürdigkeitsbonus durch die
Kassenerstattung zurück.
Das faktische Unterlassen einer Behandlung mit
nachgewiesenem Nutzen – und genau darauf läuft
eine homöopathische »Therapie« hinaus – kann
drastische negative Folgen nach sich ziehen, auch
wenn viele Malaisen glücklicherweise ohnehin keines
therapeutischen Zutuns bedürfen. Zum Glück sind
tragische Fälle wie der Tod eines homöopathisch be­
handelten Siebenjährigen in Italien im Jahr 2017
selten. Dennoch ist es mir bereits unerträglich, in
meiner HNO­ärztlichen Praxis regelmäßig Kinder
zu sehen, die mit einer homöopathischen »Therapie«
vertröstet und somit unnötig verlängertem Schmerz
ausgesetzt werden. Jede Minute dieses vermeidbaren
Leids ist unvertretbar. Wo bleibt hier das »primum
non nocere«, das »vor allem nicht schaden«, einer der
Kernsätze medizinischer Ethik?
Eine Gesundheitspolitik, die sich wider alle Fak­
ten von einer vermeintlichen Beliebtheit der Homöo­
pathie beeinflussen lässt, trägt dafür volle Mitverant­
wortung – und für noch mehr. Auch für die Zu­
nahme von Wissenschafts­ und Faktenferne in der
Bevölkerung, die sich dann zum Beispiel in Impf­
skepsis niederschlägt.
Statt der Homöopathie­Erstattung sein ministe­
rielles Okay zu geben, sollte Jens Spahn Fakten,
Wissenschaft und Ratio respektieren. Und das Wohl
der Versicherten. 20 Millionen Euro sind keine Klei­
nigkeit – wahrscheinlich sind es sogar viel mehr, da
zu den Kosten für die Präparate noch die Arzthono­
rare hinzukommen. Aber ob der Solidargemeinschaft
durch die Homöopathie so viel Geld abverlangt wird,
ist letztlich nachrangig angesichts der Preisgabe von
Ehrlichkeit und Redlichkeit gegenüber den Patienten.

Christian Lübbers ist HNO­Arzt im bayerischen
Weilheim und Sprecher des In for ma tions netz werks
Homöopathie.
Unter zeit.de/ luebbersdebatte können Sie mit ihm
über diesen Text diskutieren

Ausschließlich den Krankenkassen.
Jens Spahn fördert das auch noch
VON CHRISTIAN LÜBBERS

Wem nüt z t


Homöopathie?


Ist das gesund?


NACKTE ZAHLEN

IRGENDWANN IST AUCH MAL GUT!


Eine Maß Wiesnbier kostet in den meisten großen Festzelten 11,80 Euro, das Klimakabinett der Bundesregierung hat den Einstiegspreis für eine Tonne CO² für 2021 auf 10 Euo festgelegt.

Berichtigung: In der vorigen Ausgabe hieß es, Kardinal
Ouellet gehöre zur Priesterbruderschaft St. Petrus. Er
gehört aber zur Ordensgemeinschaft der Sulpizianer.
Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Kl. Fotos: Urban Zintel für DIE ZEIT (u.); Martin U.K. Lengemann/WELT (r.); Illustration: Leon Edler für DIE ZEIT


Oktoberfest­Bierpreis und
CO₂­Einstiegspreis

12 STREIT 26. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40

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