Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


ANGRIFF DER DEMAGOGEN BILLIGES GELD


In Amerika, England und Israel wehren die Institutionen den


Populismus ab. In Wien hat das Volk gesprochen VON JOSEF JOFFE


Banken erhöhen Kontogebühren und kündigen Sparverträge.


Aber Mario Draghi trifft kaum eine Schuld VON MARK SCHIERITZ


Nicht einknicken! Wo bleibt der Zins?


A


merika und England sind die
ältesten Demokratien auf Erden,
Israel ist die einzige in Nahost.
Trump, Johnson und Netanjahu
sind mit den Mitteln der Demo-
kratie an die Macht gekommen;
seitdem verteufeln sie Parlament, Justiz und Me dien
als Volksfeinde. Die drei Machtmenschen kämpfen
jetzt ums Überleben. Das ist die eine gute Nachricht
in üblen Zeiten, da die liberale, also machtbegren-
zende Demokratie weltweit im Feuer steht. Die
zweite kommt aus Wien, wo die »Freiheitlichen«


  • welch Etikettenschwindel! – haushoch gegen den
    alt-neuen Kanzler Kurz verloren haben.
    Donald Trump: Der ist eine Schmach für ein
    Land, das trotz Krieg und Bürgerkrieg, Rassis-
    mus und McCarthyismus noch immer mit der
    Verfassung von 1787 lebt, derweil in Europa
    Hunderte zerrissen worden sind. Trumps Prinzip
    ist die Selbstermächtigung, sein Stil der Ruf-
    mord an Gegnern und Gerichten.


Der Staat als persönliche Beute
steht nicht im Programm

Der Verfassungsstaat aber kuscht nicht. Immer
wieder haben Bundesgerichte den Usurpator
konterkariert. Die Medien kann Trump nicht
einschüchtern. Die Opposition hat 2018 das
Repräsentantenhaus erobert und nun ein
Impeachment-Verfahren wegen der Ukraine-
Affäre eingeleitet. Die Gewaltenteilung greift,
der zynische Populismus stößt an seine Grenzen.
Boris Johnson: Der ist Donald Trump mit
Eton- und Oxford-Abschluss. Auch er gedachte
das Parlament auszuhebeln. Er hat jede Abstim-
mung dort verloren. Dann das Verdikt des
Obersten Gerichts, das ihm einstimmig beschied:
Die Entmachtung des Parlaments per Zwangs-
urlaub war eine Todsünde wider Brauch und rule
of law, die seit 1215 besagt: Der Regent steht
nicht über, sondern unter dem Gesetz. Ein Abge-
ordneter triumphierte: »Der Premier hat das
Recht attackiert, aber das Recht hat ge wonnen.«
Benjamin Netanjahu: Kein Premier hat län-
ger regiert. Unter ihm wuchs das Land zu einer
Hightech-Großmacht heran; der Herr über nur
neun Millionen Israelis spielt in der Weltliga der
Trumps und Putins. In der eigenen Region
konnte er einstige Todfeinde wie die Saudis in
eine stille Allianz einbinden. Auch Netanjahu
wähnte sich jenseits des Gesetzes, auch er ver-

wechselte den Staat mit seiner Person. Ihm stehen
drei Anklagen wegen Bereicherung und Beste-
chung ins Haus; in dieser Woche will die Staats-
anwaltschaft entscheiden, ob »König Bibi« den
Staat für die eigenen Interessen missbraucht hat.
Im Wahlkampf, den er knapp verlor, meldete
sich die Armee. Der hatte er in einem durch-
sichtigen Ablenkungsmanöver befohlen, einen
Krieg gegen Gaza vorzubereiten, um sich als Ret-
ter der Na tion zu brüsten. Diskret si gna li sier te
ihm der Generalstab, er werde nicht das Wohl-
ergehen des Volkes riskieren, um ihm den Wahl-
sieg zu schenken. Auch hier griff eine Art der
Gewaltenteilung. Der Plan ging zusammen mit
Netanjahus Glaubwürdigkeit in den Schredder.
Wir sorgen uns zu Recht über den Vormarsch
der Autoritären. Russland, China und die Türkei
sind zwar »eingepreist«. Aber auch Amerika und
Großbritannien, Brasilien und Indien, Ungarn
und Polen? Das vorläufige Fazit: Die liberalen
Demokratien sind nicht so marode wie ihre Vor-
gänger in der Zwischenkriegszeit, die von Portu-
gal bis Polen zu Führerstaaten mutierten. Ermu-
tigend sind auch der unglaubliche Kurz-Sieg in
Österreich und die neue Regierung Italiens ohne
den National-Demagogen Salvini.
Doch ist die Schlacht nicht gewonnen.
Schlimmstenfalls könnte das Trio der Angeschla-
genen – Trump, Johnson, Netanjahu – im Amt
bleiben. Trump freut sich schon heute auf das
Impeachment. So kann er monatelang Twitter und
TV beherrschen, um seinen stärksten Widersacher
Joe Biden zu diskreditieren. Der soll als Vizeprä-
sident zugunsten der anrüchigen Geschäfte seines
Sohnes Hunter in Kiew interveniert haben. Ist
Biden senior weg, werden die Demokraten einen
Linksausleger nominieren, der eine zweite Trump-
Amtszeit nachgerade garantiert. Den schamlosen
Johnson müsste ein Parlament kippen, das sich stets
als Chaostruppe entpuppt hat – als Spiegelbild
einer zerrissenen Nation. »Bibi« wankt, doch könn-
te sich dieser Meistermanipulator im Patt der Par-
teien abermals durchschlängeln.
Die Parlamente mögen versagen, aber die
Institutionen des Rechtsstaates halten stand.
Zudem spürt das »gemeine Volk«, dass etwas faul
ist im Staate, wenn dessen Diener Anstand und
Moral opfern, um ihre Machtgelüste durchzuset-
zen. Der Staat als persönliche Beute seiner Ange-
stellten steht nicht im demokratischen Programm.

A http://www.zeit.deeaudio


W


ohin bloß mit dem Geld?
Banken kündigen Sparver-
träge, Sparkassen erhöhen
ihre Kontogebühren, und
Zinsen gibt es praktisch
nicht mehr. Wer es sich
irgendwie leisten kann, kauft Aktien, Immobilien
oder Gold. Wer das nicht kann, der muss zusehen,
wie die Spar erträ ge schrumpfen und die Alters-
vorsorge in Gefahr gerät. So verschärft die Nied-
rigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die
Spaltung der Gesellschaft.
Das ist die These, die die politische Dis kus-
sion bestimmt. Sie ist populär, weil der Blick auf
das Bankkonto sie zu bestätigen scheint. Aller-
dings wird dieser Eindruck durch die ökonomi-
sche Wirklichkeit nur zum Teil bestätigt.
Zunächst einmal trifft es nicht zu, dass
Deutschland auf breiter Front verarmt. Es ist so
wohlhabend wie nie zuvor. Das Geldvermögen
der privaten Haushalte hat nach Angaben der
Bundesbank in diesem Jahr den höchsten Stand
aller Zeiten erreicht. 6,17 Billionen Euro besit-
zen die Bürger. Das sind fast 300 Mil liar den
mehr als noch im Jahr zuvor. Seit Beginn der
Amtszeit des Notenbankpräsidenten Mario Dra-
ghi im Jahr 2011 sind die Deutschen insgesamt
um mehr als eine Bil lion Euro reicher geworden.

Die unteren 40 Prozent der Bevölkerung
haben kein nennenswertes Finanzvermögen

Wie das alles zusammenpasst? Sind die Zinsen
niedrig, vermehrt sich zwar einerseits das
Ersparte nicht mehr so schnell. Aber andererseits
entstehen mehr Arbeitsplätze, und die Löhne
steigen schneller. Und wer mehr verdient, der
kann auch mehr zurücklegen. Genau das ist in
Deutschland passiert. Besonders für Normalver-
diener ist das zusätzliche Einkommen oft wichti-
ger als der niedrigere Zins. Zumindest müssten
in einer seriösen Bewertung die beiden Effekte
ge gen ein an der abgewogen werden. Das passiert
aber selten. Stattdessen werden in vielen Debat-
tenbeiträgen die Zinsverluste oft einfach zusam-
mengezählt, ohne den Zugewinn durch gestiege-
ne Löhne und Gehälter zu berücksichtigen. Das
ist dann nicht sehr aussagekräftig.
Hinzu kommt, dass die unteren 40 Prozent
der Haushalte nach Abzug ihrer Schulden prak-
tisch kein Finanzvermögen haben. Sie können
nicht viel zur Seite legen. Deshalb hätten sie

kaum etwas davon, wenn der Zins stiege. Dies
gälte umso mehr, wenn steigende Zinsen dazu
führten, dass weniger neue Jobs entstünden oder
die Löhne sta gnier ten. Das Geldvermögen eines
mittleren bundesdeutschen Haushalts beläuft
sich laut Bundesbank auf rund 17.000 Euro.
Stiege der Zins um einen Prozentpunkt, dann
wären das 170 Euro mehr, im ganzen Jahr. Das
ist die Größenordnung, um die es hier geht.
Es ist auch unwahrscheinlich, dass Mario
Dra ghi morgens aufwacht und sich überlegt, wie
er die deutschen Sparer heute wieder quälen
kann. Die Zinspolitik der Europäischen Zen-
tralbank, sosehr man sie im Detail kritisieren
kann, ist auch eine Re ak tion auf sehr grundle-
gende ökonomische Verwerfungen im Spätkapi-
talismus: Überall wird zu viel gespart und zu
wenig investiert, weshalb der Preis des Geldes –
also der Zins – fällt. Dieser ist nicht nur in
Deutschland, sondern in den meisten Industrie-
nationen sehr niedrig. Wenig deutet darauf hin,
dass sich daran bald etwas ändern wird.
All dies kann man beklagen, man kann aber
auch versuchen, das Beste aus einer Welt ohne
Zinsen zu machen. Denn diese Welt hat nicht
nur Nachteile. Der Staat spart Jahr für Jahr einen
zweistelligen Mil liar den be trag, weil er sich güns-
tiger verschulden kann. Was spricht dagegen,
einen Teil des Geldes jenen Sparern zukommen
zu lassen, die in Nöte geraten? Man könnte
damit beispielsweise Bürgeranleihen finanzieren,
die höhere Zinsen abwerfen. Und ist es nicht
vielleicht sogar eine glückliche Fügung, dass das
Geld ausgerechnet jetzt so billig ist, jetzt, da
angesichts gewaltiger Modernisierungsaufgaben
infolge von Klimawandel, Alterung und Digita-
lisierung besonders viel davon gebraucht wird?
Am Thema Zinsen lässt sich aber noch et-
was anderes zeigen: die »Heute so, morgen so«-
Attitüde der politischen Debatte. Es fällt auf,
dass in diesen Tagen ausgerechnet diejenigen
ihre Liebe zum deutschen Kleinsparer entdecken,
die sich für ihn ansonsten nicht sehr interessie-
ren. Dazu zählen die Vorstände großer Banken,
die viel Geld damit verdient haben, ihren Kun-
den dubiose Finanzprodukte anzudrehen. So
drängt sich der Verdacht auf, dass es vielen Kriti-
kern von Mario Dra ghi nicht darum geht, die
Spaltung der Gesellschaft zu überwinden –
sondern diese für eigene Zwecke auszunutzen.

A http://www.zeit.deeaudio


Titelfoto: Rudi Meisel/Visum (Demonstration der Freien Deutschen Jugend auf dem Marx-Engels-Platz, Berlin, 1981)


Im Berliner Bezirk Friedrichshain-
Kreuzberg wurden 2018 exakt
464 Neubaugenehmigungen er-
teilt, im Jahr davor 468. In der
ersten Hälfte 2019 waren es 25.
Arg wenig angesichts der 40.
Neu-Berliner pro Jahr, meinen
Kritiker. Wir halten dagegen: Das
sind garantiert zwei Bauvorhaben
mehr, als Dinkelläden in dem hip-
pen Szeneviertel eröffnet wurden.
So gut ist Berlin selten. PED

Dinkel-Berlin


PROMINENT IGNORIERT


Kleine Fotos (v. o.): Loescher & Petsch/bpk; Gue-
nay Ulutuncok/epd-bild

PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00eFIN 8,00eE 6,80e
CAN 7,30eF 6,80eNL 6,00e
A 5,70eCH 7.90eI 6,80eGR 7,30e
B 6,00eP 7,10eL 6,00eH 2560,

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  1. JAHRGANG C 7451 C


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Fontane


Der Mann,


der den Deutschen


ins Herz sah


Feuilleton, Seite 55


Sind Seiteneinsteiger


Lehrer zweiter Klasse?


Ein Streitgespräch


auf Seite 12


»Die staatliche Willkür


in der DDR war auch nicht


schlimmer als heute«


Eine ZEIT-Umfrage zum Tag der Einheit zeigt: Ein großer Teil der Ostdeutschen schaut


skeptisch auf die Demokratie. Was ist in den letzten 30 Jahren schiefgegangen? POLITIK


PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 2. OKTOBER 2019 N
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VERSTEHEN


ZAHLTSICHAUS.


http://www.wiwo.de/pro be


JEDENFREITAG.

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