National Geographic Germany - 10.2019

(vip2019) #1
Es ist Nacht in Costa Rica, die Biologin Helen

Pheasey quert einen Strand und orientiert sich


dabei mit der Taschenlampe. In Zu sammen-


arbeit mit der amerikanischen Umweltorga-


nisation Paso Pacífico erforscht Pheasey den


Schwarzmarkt für Repti lien. In der Tasche trägt


die Forscherin die At trappe eines Schildkröten-


eis mit eingebautem GPS-Sender. Sie sucht eine


potenzielle Mutter dafür und deutet nun in


Richtung einer Oliv-Bastardschildkröte. Als das


trächtige Tier seine Eier ablegt, schleicht sich


Pheasey zum Schwanz der Schildkröte und legt


die Attrappe in den Haufen tischtennisballgro-


ßer Eier. Sie hofft, dass mögliche Wilderer mit


der Beute auch das Kunstei mitnehmen.


Schildkröteneier sind in Asien und Latein-

amerika eine begehrte Ware. Man kocht sie in


einer Suppe, macht Omeletts aus ihnen oder


schlürft sie roh mit Zitrone, Tomatensaft und


Pfeffer aus einem Longdrinkglas. Zwar bringen


die Eier keine riesigen Gewinne ein, aber die


meisten Schildkröten legen 5 0 bis 1 00 auf ein-


mal und hinterlassen im Sand eine lange Spur


vom Meer bis zum Nest. Die Eier sind leicht zu


finden und lassen sich in großer Zahl stehlen.


IN DEN MEISTEN LÄNDERN ist der Verkauf von


Schildkröteneiern schon seit Jahren gesetzlich


verboten. Dennoch griff die Polizei 2018 im


mexi kanischen Oaxaca den Fahrer eines Pick-


ups auf, der mit 22 000 Schildkröteneiern bela-


den war. Zwei Jahre zuvor fingen die malay-


sischen Behörden vier Philippiner ab, die in


Holzbooten 19 000 Schildkröteneier transpor-


tierten. Die hätten knapp 7 000 Euro einge-


bracht, fast das Dreifache des durchschnitt-


lichen Jahreslohns in der Heimatstadt der


Männer. Diebstähle wie diese, weiß Helen


Pheasey, stehen häufig im Zusammenhang mit


Armut oder Drogen- und Alkoholmissbrauch.


Lässt sich der organisierte Schmuggel tat-

sächlich durch Eiattrappen eindämmen? Als


Diebe vor Kurzem nahe der Provinz Guanacaste


im Nord westen Costa Ricas 28 Nester plünder-


ten, gehörte zu der Beute auch eine von Phea-


seys Attrappen. Jetzt, an einem Montagmorgen


um sieben Uhr, beobachtet die Biologin auf


einer Smartphone-App, wie sich das „Ei“ von


der Halbinsel weg- und zu einem Gebäude


weiter im Landes inneren bewegt. Dann wird es


weiter transportiert und gelangt nach San


Ramón, 137 Kilometer von dem Strand entfernt,


an dem es gestohlen wurde. Pheasey folgt der


Route in ihrem Auto. Das Kunstei ist nun bis zur
Lade rampe eines Supermarktes gelangt. Dort
wird es vermutlich den Besitzer wechseln, be-
vor es in irgendeinem Privathaus landet.
Helen Pheasey arbeitet gemeinsam mit Paso
Pacífico noch an den Einzelheiten ihrer Taktik,
aber selbst wenn die Attrappen sich im Kampf
gegen die Schmugg ler als vielversprechend er-
weisen, ist das nur eines der vielen Probleme,
die den Schildkrötenbestand bedrohen. Die
Strände, an denen sie nisten, werden durch den
Bau von Wolkenkratzern und Hotels mit
Meerblick unbrauchbar für sie. Die Straßen-
beleuchtung an den Küsten raubt den Schild-
kröten die Orien tierung. Wenn sie einen geeig-
neten Platz im Sand finden, an dem sie Eier
ablegen könn ten, gehen sie wegen des stören-
den Lichts häufig dennoch wieder auf Wander-
schaft. Schadstoffe und Plastik gelangen in die
küstennahen Gewässer; Strohhalme und Plas-
tikgabeln bleiben in den Nasen von Schildkrö-
ten stecken. Und hungrige Lederschildkröten
halten Plastiktüten fatalerweise für Quallen.
Neuen Untersuchungen zufolge wurden im
Laufe der vergangenen 150 Jahre neun Mil-
lionen Echte Karettschildkröten getötet – die
meisten wegen ihres auffälligen rotgoldenen
Panzers, der zu Haarklammern, Brillengestel-
len, Schmuckschatullen und Möbeln verarbei-
tet wurde. In den Siebzigerjahren begann man,
den Handel mit Waren, die aus Körperteilen
von Schild kröten gefertigt sind, im Rahmen des
Washingtoner Artenschutzabkommens CITES
zu ver bieten. Mit eher mäßigem Erfolg. Noch
2012 entdeckten Forscher in Japan und China
Tausende Teile von Karettschildkröten, die dort
zum Verkauf angeboten wurden. Belastbare
Zahlen gibt es nicht, aber Wissenschaftler
schätzen, dass weltweit nur noch 60 000 bis
80 000 nistende Weibchen der Echten Karett-
schildkröte übrig sind.

IMMER NOCH GESTATTEN manche Staaten die
Jagd auf Schildkröten für den Eigenbedarf an
Fleisch. Aber selbst in Ländern, in denen diese
Praxis verboten wurde, sind Vorschriften sinn-
los, solange sie nicht durchgesetzt werden. Man
muss die Einheimischen einbeziehen und
ihnen Alternativen für Nahrung oder Einkom-
men bieten. Allein in Mosambik und Madagas-
kar werden jedes Jahr Zehn tausende, vielleicht
sogar Hunderttausende Grüne Meeresschild-
kröten illegal getötet.

80 NATIONAL GEOGRAPHIC

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