Wenn Juli etwas will, dann will sie es mit einer solchen Dramatik,
dass es mir häufig zu viel ist. Ich komme mit so viel Drama nicht
zurecht. Ich finde die Welt schon krass genug, alles geht da drun
ter und drüber, ich brauche es nicht noch krasser. Wenn Juli ein
Gummi bärchen möchte, sagt sie: »Papa, ich brauche ganz dringend
ein Gummibärchen!« Ich erkläre ihr dann, dass es auf der ganzen
Welt überhaupt keinen Menschen gebe, der ganz dringend ein
Gummibärchen brauche. Man habe vielleicht Lust auf ein Gummi
bärchen, man fände es vielleicht sehr nett, ein Gummibärchen zu
haben, aber dass jemand gar nicht mehr könne ohne ein Gummi
bärchen, das sei nicht möglich. Juli sagt: »Doch, ich! Ich brauche
jetzt ganz dringend ein Gummibärchen!« In diesem Sinne ist meine
jüngste Tochter ständig im Katastrophenmodus. Immer ist es schon
fast zu spät, ständig leben wir um fünf nach zwölf.
Und immer bin ich um Normalität bemüht. Wie ein Mediator ordne
ich die Angelegenheiten, setze sie in die entsprechenden Bezüge,
entschärfe und rufe zur Mäßigung auf. Ich bin mir gar nicht sicher,
warum ich das tue. Gemeinhin betonen Eltern doch gerne, wie au
ßergewöhnlich ihre Kinder seien. Ich höre selten, dass andere Väter
davon schwärmen, was für normale Kinder sie haben, sie sind viel
mehr der Meinung, dass sie ganz und gar besondere Kinder haben.
Besonders begabt, besonders sportlich, besonders geistreich. Die
normalen Kinder sind ja immer die anderen. In dieser Hinsicht ist
Juli also eigentlich perfekt aufgestellt. Bei ihr ist alles immer beson
ders: besonders notwendig, besonders schlimm, besonders kaputt.
Sie erzählt auch gerne im Desastermodus. Wenn es in der Schule
mal in einer Stunde nicht so richtig interessant war, sagt Juli: »Heute
bin ich fast vor Langeweile gestorben.« Wenn meine Frau das Auto
in die Werkstatt gefahren hat, weil der TÜV Mängel festgestellt hat,
dann erzählt Juli: »Heute ist bei Mama das Auto zusammengebro
chen!« Und wenn man mit dem Staubsauger in der Wohnung un
terwegs ist und dabei versehentlich irgendeinen Spielaufbau, den sie
auf dem Boden hergerichtet hat, etwas verschiebt, etwa einer Puppe
beim Picknick ihren Teller verrückt, sagt Juli: »Na toll, jetzt hast du
alles kaputt gemacht, und ich muss alles wieder neu aufbauen!«
Manchmal versuche ich die Welt durch Julis Augen zu sehen. Eine
Welt, in der es zwischen ganz toll und ganz schlimm keine Grau zone
gibt. Ich hingegen verbringe mein ganzes Leben in dieser Grau
zone. Irgendwo zwischen mittelgut und mittelschlimm. Ich beneide
meine Tochter dann darum, dass sie so krass empfinden kann – und
frage mich auch, ob das vielleicht im Leben einfach irgendwann so
kommt, dass man die Dinge anschaut und sie alle als eher so mittel
empfindet, obwohl sie einen früher auf die Palme oder ganz aus dem
Häuschen gebracht hätten. Wird Juli auch einmal so fühlen? Wird
sich irgendwann in ihrem Kopf ein grauer Horizont ausbreiten?
Leider helfen mir solche Gedanken nicht dabei, aktuelle Gummi
bärchenkrisen zu lösen. Meistens geht es so weiter: Da ich nicht ge
willt bin, jedem Impuls meiner Tochter nachzugeben, gebe ich das
Gummibärchen erst mit Verzögerung und betont langsam heraus.
Um zu zeigen, dass ich mich keinesfalls dazu nötigen lasse, Gummi
bärchen zu servieren, nur weil es gerade opportun ist. Dann sagt
Juli: »Das ist ein weißes, ich will aber ein rotes! Bäh, weiße Gummi
bärchen sind total eklig!« Und dann gebe ich ihr ein rotes. Aber
wirklich betont langsam.
Prüfers Töchter MEINE 6-JÄHRIGE
Juli ist 6 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier
im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 19, 14 und 12 Jahren
»Ich brauche ein
Gummibärchen!«
Illustration Aline Zalko
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