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SACHBUCH
DIE ZEIT 42/19
SACHBUCH
Z
ehn Bilder. Triste Grau
töne hier, ein paar rote Fle
cken dort, auf drei Tafeln
dann heitere Pastellfarben
in aquarellartigem Verlauf.
Jedes Bild auf 28 mal 24
Zentimetern. Und jedes
entstanden wie im Kindergarten: Man kleck
se Tinte auf ein Papier und falte es entlang
der Mittelachse, wodurch die eine auf die
andere Seite abfärbt und ein ungefähr sym
metrisches Bild entsteht. Das kann an eine
Fledermaus erinnern oder an zwei Murmel
tiere oder – aber halt: Die Ausdeutung kann
dauern, und peinlich werden kann sie auch.
Im Auge des Betrachters. Hermann Ror-
schach und sein bahnbrechender Test heißt
bewunderungsvoll der Sachbuchziegel, den
der New Yorker Literaturübersetzer Da
mion Searls nun diesem Phänomen samt
seiner bald hundertjährigen Popularisie
rungsgeschichte gewidmet hat. Rorschach
veröffentlichte seine Klecksographien 1921;
sie wurden in einem Pappkarton vertrieben,
zusammen mit seinem Erklärungsbuch
Psy cho dia gnos tik. Seitdem haben sich Mil
lionen, darunter hoffnungslose Psychiatrie
patienten und putzmuntere Gesunde, die
Tafeln reichen lassen, um die Frage »Was
könnte das sein?« zu beantworten. Was vie
le vergaßen: Es ging nicht bloß darum, den
»fröhlichen Schmetterling auf einer Wiese«
zu erkennen oder einen »Axtmörder« (ver
räterisch). Jede Reaktionsnuance wurde
von den penibel analysierenden Testleitern
registriert. Manche Probanden erkannten
Bewegungsabläufe im Bild, manche rea
gierten besonders auf Farben. Anhand der
Antworten dia gnos ti zier te der Testleiter
dann alle möglichen Geisteskrankheiten.
Den lebhaften Gebrauch seines Tests
bekam Rorschach kaum noch mit. Als er
mit 37 Jahren an einer Blinddarmentzün
dung starb, war sein Test gerade erst ver
öffentlicht. Ein Drittel seines 600seitigen
Buches widmet Searls der Biografie des Psy
chiaters. 1884 als Künstlersohn in Zürich
geboren, schwankte Rorschach zwischen
einem Studium der Kunst oder der Medi
zin. Für seinen Test begeisterte Rorschach
die Fachprominenz erst spät. Eugen Bleu
ler, einer der nervenärztlichen Granden
des Landes, nannte ihn »die Hoffnung der
schweizerischen Psychiatrie für eine ganze
Ge ne ra tion«. Der Biograf stimmt zu.
In herausfordernder Ausführlichkeit
verfolgt Searls, wie Rorschach von seinem
»Zauberlehrling« überlebt wurde, der, von
Schweizer Exilanten in die USA expor
tiert, dort Karriere machte, als sei der Test
sowieso eine amerikanische Idee gewesen.
Das Pragmatismusversprechen war wohl
der Garant dieses Erfolgs. Andere Tests,
so fürchtete man, seien durch strategische
Antworten leicht zu überlisten; die hyp
notischen Klecksbilder aber provozierten
verblüffend freimütige Eingeständnisse.
Er diente zur Personalgewinnung bei der
Armee und in Privatunternehmen. Im
amerikanischen Film noir wurden die
Tintenkleckse zum Trumpf des Meister
psychiaters auf Verbrecherjagd. Das Ver
fahren sei zum Röntgengerät der Seele
hochgejubelt worden, beklagt Searls und
spricht Rorschach posthum von der
artigem Positivismus frei. Bedauernd
stellt er aber auch fest, dass der Test desto
gründlicher aus dem klinischen Alltag
verschwand, je populärer er wurde.
Besonders erfreut soll Hermann Göring
mitgemacht haben, als ihm die Tinten
kleckse in seiner Nürnberger Zelle vorgelegt
wurden. Dabei, meint der amerikanische
Gefängnispsychologe Gus tave Gilbert, ver
riet sich Göring durch ein Fingerschnipsen.
»Erinnern Sie sich an die Tafel mit dem
roten Fleck?«, so Gilbert zu seinem Proban
den. »Nun, krankhafte Neurotiker zögern
häufig bei dieser Tafel und sagen, es sei Blut
darauf. Sie zögerten, nannten es jedoch
nicht Blut. Sie versuchten, es mit den Fin
gern wegzuschnippen, als dächten Sie, dass
Sie das Blut mit einer kleinen Bewegung
wegwischen könnten.« So griffig erklärt der
Rorschachtest also noch den Holocaust.
Wie überzeugend das ist, liegt vielleicht im
Auge des Betrachters.
Damion Searls:
Im Auge des Betrachters
Hermann Rorschach und sein
bahnbrechender Test;
a. d. Engl. v. Harald Stadler;
btb, München 2019; 608 S., 25,– €,
als EBook 19,99 €
Sehen Sie da Blut?
Damion Searls ist vom legendären Rorschachtest fasziniert
VON RONALD DÜKER
Foto: Hama Karim Khasraw
Bachtyar
Ali
»Wir warendas
Wetterleuchtender
kurdischenLiteratur.
Bachtyar Aliaberist
BlitzundDonner.«
SherkoBekas
Aus dem Kurdischen (Sorani)von
Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim
288 Seiten, gebunden