Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

DIE ZEIT 42/19 41


Ekstase und die Freude, das Vertrauen, die
Geduld und die Sanftheit neben der Lange­
weile, der Müdigkeit, neben Sehnsucht und
Traurigkeit, Furcht, Angst und Ekel. Und
in einer dritten Gruppe, die den bösartigen
Absichten gewidmet ist, bilden die Kapitel
zu Lästerei und Knausrigkeit, zu Spott und
Boshaftigkeit, zu Eifersucht und Arroganz,
Grausamkeit und Hass eine Konstellation,
in der jedes Gefühl durch fließende Über­
gänge mit anderen verbunden ist.


Z E IT: Als eine irdische Landkarte hat schon
vor über 350 Jahren, im Barock, die Schrift­
stellerin Madeleine de Scudéry die Leiden­
schaften gemalt. Warum ist für Sie demgegen­
über heute das Flüssige, das Fließende so
wichtig? Welches Meer ist es, in dem die Inseln
der Leidenschaften liegen?
Casiraghi: Es ist das Begehren, das alles um­
f ließt. Aber auch hier gibt es keine scharfe
Unterscheidung. Das Begehren ist nicht das
Wasser oder das Land, es zeigt sich in beidem.
Z E IT: Das Wasser durchzieht Ihr Buch als
Metapher. Sie verwenden, um die Gegenwart
zu charakterisieren, das Bild der f lüssigen Ge­
sellschaft, das der Soziologe Zygmunt Bauman
geprägt hat. Bevor Menschen Routinen aus­
bilden können, verf lüssigen sich schon die Er­
fahrungen, die sie zum Handeln bewegt haben.
Casiraghi: So ergeht es den meisten Men­
schen: Sie kennen sich mit den eigenen Ge­
fühlen in der sich überstürzenden Schnellig­
keit der Reize nicht aus, sie verschwimmen.
Jeder muss sich dem ständigen Entgleiten
anpassen.
Maggiori: Uns interessiert die Temperatur
des Wassers. Und die Strömung. Darin liegt
der Unterschied zu dem alten Projekt der
Scudéry, die feste Anhaltspunkte in der Land­
schaft markierte, Wälder, Felder, Felsen, Ort­
schaften. Unsere heutige Gesellschaft kennt
solche festen Anhaltspunkte der Gefühle nicht
mehr. Das macht Angst. Unsere Ge fühle
changieren fortgesetzt.
Z E IT: Das Meer, das die Inseln verbindet, ist
also nicht einfach ein freundliches, tragendes
Element. Es bedeutet auch Angst.
Maggiori: Der Ozean kann ebenso verschlin­
gend wie bergend sein, und von einem Mo­
ment zum nächsten kann sein Charakter
schwanken. Wir Menschen sind nicht gut oder


»Zu meinen engen Freunden unter den Leidenschaften


zähle ich die Sanftheit, die Geduld und die Traurigkeit«


CHARLOTTE CASIRAGHI

Psychoanalytikerin Melanie Klein, wer zuvor
gehasst hat.
Z E IT: In der Encyclopédie von 1751 steht noch
zu lesen, der ennui, die lustlose Langeweile, sei
der gefährlichste Feind unserer Existenz und
das Grab aller Leidenschaften. Wer ist für Sie
heute unter den Gefühlen der Feind – und wer
der Freund?
Casiraghi: Der Ausdruck des Feindes trifft es
nicht, denn das Feindliche ist im Freundlichen
immer präsent, es lässt sich nicht abspalten.
Doch zu meinen engen Freunden unter den
Leidenschaften zähle ich die Sanftheit, die
Geduld und die Traurigkeit.
Maggiori: Für mich ist es die Freundlichkeit.
Z E IT: Wir haben verabredet: keine privaten
Fragen. Doch wenn man wie Sie die Philoso­
phie in der gefühlten Erfahrung verankert,
dann kann man nicht anders, als Ihr Buch
auch als Ausdruck Ihres privaten Lebens zu
lesen. Das Buch widmen Sie, Charlotte, Ih­
rem Vater Stefano, der bei einem Unfall
starb, als Sie klein waren, und Sie, Robert,
Ihrem verstorbenen Bruder. Sie erinnern
auch an die Analytikerin und Philosophin
Anne Dufourmantelle, die 2017 umkam.
Das alles ist doch privat?
Casiraghi: Die Menschen, die uns naheste­
hen, sind auf jeder Seite des Buchs präsent.
Wir müssen deshalb nicht explizit offenlegen,
was privat ist.
Maggiori: Zu viele Bücher sind von Menschen
geschrieben worden, die so tun, als bestünden
sie nur aus einem Kopf, der denkt.

Die Zeit ist um. Ein freundlicher Dank, Ruck­
sack packen, Maggiori zündet sich eine Ziga­
rette an. Abschied, die Tür schließt sich. We­
nig später, in einem Café um die Ecke: ein
Blick noch in die Straße hinein. Und tatsäch­
lich, dort drüben gehen sie, unbemerkt, zwei
Passanten, an den Gebäuden entlang: eine
junge Frau und ihr ehemaliger Lehrer, ge­
lassenen Schritts, ins Gespräch vertieft.

böse, aber eine Situation kann uns plötzlich
gut oder böse handeln lassen. Auch deshalb ist
die politische Lenkung der Gefühle zu einer
neuen Form der Machtausübung geworden
und unsere Aufmerksamkeit für die Inselland­
schaft, in der wir leben, so wichtig.
Z E IT: Soll man Ihr Buch politisch lesen?
Maggiori: Der Hass lässt sich politisch
wachrufen. Wir erleben es in der migrations­
poli tischen Diskussion. Der Hass nährt sich

dann selbst, unabhängig von der Realität, und
zielt darauf, Menschen zu zerstören und aus­
zuschließen. Die Philosophie aber will nicht
ausschließen, sie ist ursprünglich eine Schule,
sie will lehren, offen für jeden. Sie richtet sich
an jeden. Deshalb geht es ihr zentral um
Gerechtigkeit. Sie will eine gerechte Gesell­
schaft entstehen sehen, durch politisches
Handeln.
Casiraghi: Der Hass ist ein starker politischer
Hebel, und auf diese Macht der Gefühle will
unser Buch ebenso aufmerksam machen wie
auf die Ambivalenz, die ihnen innewohnt und
die wir in unser Leben integrieren können.
Etwas anderes kommt ja hinzu: Der Hass ist
in der menschlichen Entwicklung unum­
gänglich. Er lässt sich nur überwinden, wenn
man ihn anerkennt und durchläuft und hin­
ter sich lässt. Lieben kann nur, das wusste die

Charlotte Casiraghi und
Robert Maggiori:
Archipel der Leidenschaften
Kleine Philosophie der großen Gefühle;
a. d. Franz. v. G. Fröhlich, A. Hansen,
R. Karzel; C. H. Beck, München 2019;
342 S., 26,– €, als E­Book 20,99 €

ROBERT MAGGIORI
geb. 1947, ist ein italienisch-
französischer Philosoph
und Journalist
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