Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

widergespiegelt hätten. Diese Anteilsrechte hätte
die Treuhandanstalt in einen Fonds einbringen
und als Anteilsscheine an die ostdeutsche Bevöl-
kerung verteilen können, ohne dass sich die Frage
der Werthaltigkeit überhaupt gestellt hätte. Der
Auftrag des Einigungsvertrages hätte sich auf
diese Weise erfüllen lassen. Das Joint Ven ture
zwischen dem tschechischen Autobauer Škoda
und VW ist ein gutes Beispiel für das Alternativ-
modell, das auch damals schon bekannt war und
propagiert wurde, von dem man aber in der Politik
nichts wissen wollte.
Ergänzend wären Modelle des Management-
Buy-out möglich gewesen: Manche Leiter der Be-
triebe hätten selbst Eigner werden können, wenn
die Treuhand ihnen Starthilfe geleistet hätte. Aber
dazu hätte man das alte Führungspersonal nicht
vollständig abblocken dürfen. Es waren ja nicht
alle Entscheidungsträger kommunistische Appa-
ratschiks. Vielmehr gab es viele tatkräftige Unter-
nehmensleiter, denen es gelungen war, ihre Betrie-
be selbst unter den schwierigen Verhältnissen der
DDR aufrechtzuerhalten. Die Sinnhaftigkeit des
Versuchs, den wirtschaftlichen Neuanfang der
neuen Länder mit unverdächtigen Pfarrern und
Poeten zu gestalten, ist diskutierbar.
Die alternativen Privatisierungsmodelle hätten
die Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft ver-
mieden, und sie hätten vermutlich zu viel mehr
Wohlstand und Wachstum bei weniger Finanz-
hilfe aus dem Westen geführt. Vor allem hätte das
Eigentum dazu geführt, dass die Bevölkerung der
neuen Länder sich stärker mit dem neuen System
identifiziert hätte, als es heute der Fall ist. Man
kann keinen Kapitalismus ohne Eigentum schaf-
fen – Eigentum, das auch unter der ansässigen
Bevölkerung verteilt ist und die Chance auf ein
bodenständiges Unternehmertum eröffnet.
Große Fehler wurden zudem bei der Privatisie-
rung der Wohnungsbestände gemacht. Die DDR


hatte gut zwei Millionen in ihrer Zeit neu geschaf-
fene Wohnungen hinterlassen. Zumeist waren es
Block- und Plattenbauten, weiß Gott keine archi-
tektonischen Schmuckstücke und weit entfernt
von den westdeutschen DIN-Normen. Aber diese
Wohnungen stehen großenteils noch heute, sie
wurden längst saniert und bieten annehmbare
Wohnverhältnisse, wie sie auch im Westen in gro-
ßen Mietshäusern bestehen. Man hätte diese Woh-
nungen den Mietern schenken oder billig verkau-
fen können mit der Auflage, sich an gemeinsamen
Renovierungsprogrammen zu beteiligen. So hatte
es 1994 eine vom Bundeswohnungsministerium
eingesetzte Kommission unter meiner Leitung
empfohlen.
Aber dazu kam es nicht, denn die westdeut-
schen Wohnungsgesellschaften wollten das Ge-
schäft selbst machen. Sie erwarben die Wohnun-
gen, renovierten sie und vermieteten sie dann
wieder. Als Deutschland in den ersten Euro-Jahren
in die Krise geriet, boten viele der Eigentümer ihre
Immobilien zu günstigen Preisen an. Internationale
Investoren kauften sich in die ostdeutschen
Wohnungsbestände ein. Heute wollen diese In-
vestoren angesichts der neuen Wohnungsknapp-
heit in den Ballungszentren bei den Mieten he-
rausholen, was nur geht. Die Konsequenz aus al-
lem sind Demonstrationen mit dem Ziel der
Vergemeinschaftung der Wohnungsbestände. Das
ist verständlich, aber falsch. So zerstört man die
Marktwirtschaft.
Dass es so weit kommen konnte, liegt großen-
teils an der Einflussnahme westdeutscher Unter-
nehmen auf die Politik der Bundesregierung. Man
wollte nicht nur an die Wohnungsbestände heran-
kommen und dabei sein Geschäft machen, son-
dern natürlich auch an die Landflächen und In-
dustriefirmen – mindestens um auf diesem Wege
zu verhindern, dass sie in die Hände von Wett-
bewerbern gerieten.

Nach der Wende besaß die Treuhand circa 40
Prozent der gesamten Landfläche der Ex-DDR,
nach der Übertragung von Land an die Kommu-
nen noch circa 25 Prozent. Das war die Hälfte
aller privaten und privatisierbaren Flächen. Sie
besaß praktisch alle Industriefirmen mitsamt den
Immobilien und Ferienanlagen für die Mitarbei-

ter. Es boten sich Gelegenheiten für diejenigen,
die ein bisschen Geld hatten, im Osten irgendwie
mit einzusteigen, aber nicht für die Ostdeut-
schen, denn die hatten keines. Sie konnten sich
noch nicht einmal welches leihen, weil sie den
Banken kein Wohneigentum als Sicherheit an-
bieten konnten.

Westdeutsche Interessen spielten auch eine
Rolle bei der ausufernden Lohnpolitik, die der In-
dustrie nach der Wende den Todesstoß gab. An
dieser Lohnpolitik waren Ostdeutsche am wenigs-
ten beteiligt, denn sie wussten ja gar nicht, wie die
Gewerkschaften funktionierten, und private ost-
deutsche Unternehmen gab es noch nicht, als die
ersten Tariflohnverträge geschlossen wurden. Die
Verhandlungen wurden stattdessen von den neuen
Branchengewerkschaften und Unternehmerver-
bänden geführt, die faktisch westdeutsche Grün-
dungen waren. Die Einigungen sahen die volle
Lohnangleichung an das Westniveau in nur weni-
gen Jahren vor.
Die Verhandlungsführer aus dem Westen wa-
ren sich einig, dass es galt, den Aufkauf der Treu-
handfirmen durch internationale Wettbewerber zu
verhindern, die ihnen in Ostdeutschland zu nied-
rigeren Löhnen Konkurrenz machen würden. Das
Kalkül: Wenn die Japaner kommen wollten, dann
sollten sie gefälligst die gleichen Löhne zahlen
müssen wie sie selbst. Politik und Medien spielten
dazu die übliche Begleitmusik von der Anglei-
chung der Lebensumstände und redeten von Brü-
dern und Schwestern.
Die Strategie war privatwirtschaftlich sehr er-
folgreich, wie die zitierten Zahlen zum Beschäfti-
gungsschwund der Treuhandfirmen zeigen. Volks-
wirtschaftlich war sie ein Desaster. Denn Löhne
kann man zwar durch Investitionen erhöhen, aber
man kann sie nicht per Dekret hochschieben. Wer
das doch versucht, schreckt die Investoren ab und
verhindert letztlich die Angleichung, weil es an
Unternehmen fehlt, die die Löhne zahlen.
Als sich nach einigen Jahren dennoch ein be-
scheidenes ostdeutsches Unternehmertum entwi-
ckelt hatte und die neuen Unternehmer über ihre
eigenen betrieblichen Löhne statt über die Löhne
potenzieller Konkurrenten verhandelten, kehrte
wieder Vernunft ein. Man fand doch Wege, sich

der zerstörerischen Tarifverträge zu entledigen.
Aber dann war es vielfach schon zu spät, zumal die
osteuropäischen Länder da schon auf dem Sprung
in die Europäische Union waren. Der wertvolle
Vorsprung, den die neuen Länder gegenüber Polen,
Tschechien, der Slowakei und Ungarn beim Ein-
tritt in den EU-Markt hatten, wurde verspielt. Als
klar wurde, dass die Landschaften des Ostens nicht
blühen würden, begannen die jungen Leute abzu-
wandern, und die Zurückgebliebenen wandten
sich der AfD zu.
Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Vereini-
gungsgewinne wurden verteilt. Die Glücksritter
der ersten Stunden haben sich aus dem Staube ge-
macht, und der So zial staat sorgte für den Aus-
gleich. Die Steuerzahler des Westens finanzieren
einen gut ausgebauten So zial staat, dessen Leistun-
gen weit über dem liegen, was die heutige ostdeut-
sche Wirtschaft selbst ermöglichen könnte.
Noch mehr Sozialtransfers zu gewähren wäre
kontraproduktiv, weil sich der Staat damit auf
dem Arbeitsmarkt als Konkurrent der Privatwirt-
schaft aufstellt und der Wirtschaft das Leben er-
schwert. Richtiger und wichtiger wäre es, die In-
novationsprogramme, die einzelne Bundesländer
recht erfolgreich entwickelt haben, fortzuführen
und auszubauen.
An erster Stelle sollten aber Bemühungen ste-
hen, die Eigentumssituation zu verbessern. Dazu
kann es gehören, einen staatlich beaufsichtigten
Vermögensfonds zu bilden, wie ihn der Präsident
des Ifo-Instituts Clemens Fuest vor einiger Zeit
für ganz Deutschland vorschlug. Den Bürgern der
neuen Länder könnte man zu diesem Fonds einen
privilegierten Zugang verschaffen. Vor allem sollte
speziell für die neuen Länder ein Programm zur
Förderung des Wohneigentums aufgelegt wer-
den, um die Versäumnisse bei der Privatisierung
der Wohnungsbestände wenigstens teilweise zu
kompensieren.

Die Treuhand verkaufte ihre Betriebe meistbietend. Das Geld, das nach Abzug der


Vereinigungskosten übrig blieb, sollte verteilt werden. Es blieb aber nichts übrig


ist Ökonom und war bis 2016
Präsident des Münchner Ifo-Instituts.
1991 veröffentlichte er zusammen
mit seiner Frau Gerlinde »Kaltstart«,
ein Buch über Schwierigkeiten der
Wiedervereinigung.

Hans-Werner


Sinn



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 WIRTSCHAFT 33


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