Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

DIE ZEIT: Herr Ramakrishnan, Sie wurden in In-
dien geboren und gingen als junger Wissenschaft-
ler in die USA. Warum?
Venkatraman Ramakrishnan: Als mein Vater ein
Kind war, war Indien noch eine britische Kolonie.
Viele Inder studierten damals in Großbritannien.
Aber schon mein Vater ging 1951 in die USA,
nach Wisconsin, um dort eine Postdoc-Stelle an-
zutreten. Das war nach der indischen Unab-
hängigkeit. Als meine Generation dann dran war,
Ende der Sechzigerjahre, wollte niemand mehr
nach Großbritannien oder Europa. Für einen
jungen Wissenschaftler waren die USA das Ge-
lobte Land.
ZEIT: Europa hatte die Anziehungskraft verloren?
Ramakrishnan: Aufklärung, industrielle Re vo lu-
tion, die modernen Wissenschaften – das alles
hatte in Europa begonnen. Ein Ausdruck dessen
ist die britische Royal Society, die 1660 gegründet
wurde, um die empirischen Wissenschaften zu be-
fördern. Im 20. Jahrhundert hat sich Europa dann
zweimal in den eigenen Fuß geschossen, mit zwei
Weltkriegen. Eine der Folgen war, dass die wissen-
schaftliche Vorherrschaft in die USA wechselte.
Dort waren die Menschen, die Ressourcen, die
Dynamik. Als ich 1971 nach Ohio ging, stand völ-
lig außer Frage, dass die USA die führende Wis-
senschaftsnation waren. Aber in den vergangenen
40 Jahren hat die europäische Wissenschaft einen
enormen Wiederaufstieg erlebt.
ZEIT: Wie das?
Ramakrishnan: Europa ist wieder zusammenge-
kommen. Die Mobilität innerhalb des Kontinents
hat dramatisch zugenommen, die Investitionen in
Forschung und Wissenschaft wurden gefördert.
ZEIT: Ist das ein Verdienst der EU? Sie fördert die
Wissenschaft mit vielen Mil liar den Euro.
Ramakrishnan: Es geht nicht allein um das Geld.
Die EU ist eine großartige Vermittlerin. Sie hat es
ermöglicht, dass Wissenschaftler auf dem ganzen
Kontinent problemlos zusammenarbeiten. Sie
brauchen keine Visa, sie können sich frei bewegen,
sehr schnell Ideen austauschen. Der zweite große
Vorteil der EU, den viele nicht erkennen, ist die
Harmonisierung von Vorschriften und Regeln.
ZEIT: Wie bitte, ausgerechnet die ungeliebte Re-
gulierung soll ein Vorteil sein?
Ramakrishnan: Wenn Sie etwa Tierversuche ma-
chen wollen oder mit biologischem Material ar-
beiten, brauchen Sie dafür einheitliche Regeln.
Das macht die EU sehr effektiv.
ZEIT: War das der Grund, 1999 an ein Labor in
Cam bridge zu wechseln – Sie wollten in Europa
forschen?
Ramakrishnan: Der einzige Grund für mich war
dieses fantastische Labor. Wäre es in Neuseeland
oder Australien gewesen, wäre ich dorthin ge-
gangen.
ZEIT: Zwanzig Jahre später sind Sie britischer
Staatsbürger und Präsident der Royal Society.
Ramakrishnan: Durch den Brexit denken viele
Menschen, Großbritannien sei unfreundlich und
fremdenfeindlich geworden. Tatsächlich ist die
britische Gesellschaft noch immer eine der offens-
ten der Welt. Als ich hierherkam, war ich Ende 40,
hatte keinerlei Netzwerk. Und ich sehe nicht sehr
»britisch« aus. Plötzlich werde ich gefragt, ob ich
Präsident der Royal Society werden will! Wir müs-
sen uns diese Offenheit bewahren.
ZEIT: Aber der Ruf des Landes hat bereits gelitten.
Ramakrishnan: Ich bin nicht sicher, ob das für die
Wissenschaft gilt. Ich habe versucht herauszufin-
den, wie viele EU-Bürger, die hier wissenschaftlich
arbeiten, das Land seit dem Referendum verlassen
haben. Bislang gibt es keine messbaren Verände-
rungen. Viele sind unglücklich über die Situation,
warten aber ab. Ich hoffe immer noch, dass es ein
Abkommen mit der EU gibt und wir unsere sehr
guten Beziehungen erhalten.


ZEIT: Wären Sie heute ein junger Wissenschaftler,
zögerten Sie, nach Großbritannien zu kommen?
Ramakrishnan: Nein. Großbritanniens akademi-
sche Tradition ist über Jahrhunderte gewachsen.
Egal was passiert, wir werden ein führendes Wis-
senschaftsland bleiben. Selbst Boris Johnson und
seine Regierung, die unbedingt den Brexit wollen,
haben angekündigt, dass sie es Wissenschaftlern
aus dem Ausland künftig leichter machen wollen,
hierherzukommen.
ZEIT: Also gibt es keinen Grund zur Sorge?
Ramakrishnan: Ich möchte diese Regierung nicht
verteidigen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass
Großbritannien besser in der EU hätte bleiben
sollen. Aber ich sehe bislang keinen Grund, wegen
des Brexits nicht hierherzukommen.
ZEIT: Wenn es zu einem No-Deal-Brexit kommt,
welche Auswirkungen hat das auf die Wissenschaft?
Ramakrishnan: Gravierende. Großbritannien
nimmt an Horizon 2020 teil, dem Forschungsför-
derprogramm der EU. Es läuft Ende 2020 aus.
Was wird aus den Stellen, die mit diesen Mitteln
bezahlt werden? Was wird aus klinischen Versu-
chen und neuen Medikamenten, für deren Test

bislang EU-weite Regeln gelten? Das alles stünde
infrage, der Schaden wäre riesengroß.
ZEIT: Nehmen wir eine britische Wissenschaftlerin,
die in einem Horizon-2020-Programm arbeitet.
Wäre sie am 1. November arbeitslos?
Ramakrishnan: Die Regierung hat gesagt, alle Stel-
len, die mit EU-Mitteln finanziert werden, wür-
den zunächst garantiert. Das Problem ist ein ande-
res. Bei der Forschungsförderung profitiert Groß-
britannien überproportional von der EU – es be-

We r w i l l


hier noch


hin?


Der Chef der Royal Society,


Venkatraman Ramakrishnan,


über die Folgen des Brexits


für die Forschung


Das Christ Church
College in Oxford,
ein Sehnsuchtsort
für Wissenschaftler
aus aller Welt –
jedenfalls bis jetzt

HOCHSCHULE


Fotos: Shutterstock; Flavio Leone für DIE ZEIT (kl. Foto)

Quellen


Steigende Schülerzahlen im Primarbereich
heißt die Studie von Klaus Klemm und
Dirk Zorn für die Bertelsmann-Stiftung

Bildung in Deutschland 2018:
Im Nationalen Bildungsbericht findet man die
Zahlen zur Teilzeitarbeit von Lehrkräften

Lernen sichtbar machen –
die berühmte Meta-Studie von John Hattie,
die den Lernerfolg von Schülern untersucht

Links zu diesen und weiteren Quellen zum
Lehrermangel finden Sie auf ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2019-42

Schon jetzt ist absehbar: Weder Seiteneinsteiger
noch Helfer können die Löcher im Stundenplan lang-
fristig stopfen. In Sachsen-Anhalt gilt das schon jetzt.
In manchen Landkreisen ist die Personaldecke so
dünn, dass jeder Lehrer- gleich zu einem Unterrichts-
ausfall führt, oft tagelang. Die Schüler werden nur
noch betreut, bekommen in einigen Fächern keine
Noten mehr. In 300 Klassen im Land wird das zu den
Halbjahreszeugnissen der Fall sein. Spätestens bei der
nächsten Grippewelle wird Sachsen-Anhalt kein
Einzelbeispiel bleiben.
Die Lehrerlücken sind nicht überall gleich groß.
Bayern und Hamburg leiden weniger, Nordrhein-
Westfalen, Bremen, Berlin und einige Ostländer hin-
gegen massiv. Auch die Schulformen sind unterschied-
lich betroffen: Gymnasien haben überall weiterhin
genug Personal; die Not grassiert, wo die Kleinsten
und Bildungsschwächsten zur Schule gehen. Je abge-
hängter die Region, je ärmer das Viertel, je sozial be-
nachteiligter die Familien, desto wahrscheinlicher, dass
Lehrerstellen nicht regulär besetzt werden können.
Bildungspolitik ist ein undankbares Feld. Für
viele Probleme – etwa die Chancenungleichheit –
tragen die Kultusminister nicht die Hauptverant-
wortung, werden aber dafür gescholten. Der Lehrer-
mangel jedoch ist selbst verschuldet. Größere Pro-
jekte leiden darunter besonders. Der versprochene
Ausbau der Ganztagsbetreuung in der Grundschule?


Eine Illusion. Knapp 20.000 zusätzliche Lehrkräfte
benötigt man für den Plan. Man findet sie nicht. Fort-
schritte bei der Inklusion, mehr individuelle Förde-
rung? Schwierig.
In vielen Bundesländern kommt es jetzt stärker
darauf an, flächendeckend den Kern von Schule
zu bewahren: den normalen Unterricht in den
Hauptfächern. Ideen dafür gibt es. Leider sind sie
alle unpopulär. Ein paar Vorschläge aus dem Gift-
schrank der Bildungspolitik:
Größere Klassen. In einem Punkt zeigen sich
Lehrer und Schüler, Eltern wie Politiker einig: Große
Klassen sind schlecht. Doch das stimmt nicht. Weder
schneiden Nationen mit großen Klassenstärken – etwa
bei Pisa – schlechter ab, noch unterrichten Lehrer in
kleinen Klassen besser. Im berühmten Ranking
wirkungsvoller Reformmaßnahmen des neuseelän-
dischen Schulforschers John Hattie landet die Klas-
sengröße deshalb sehr weit hinten. Erst Klassen-
frequenzen um die 15 Schüler wirken sich auf den
Lernerfolg aus, allerdings nur moderat. Zwei Kinder
weniger pro Unterrichtsraum in Deutschland ver-
ändern dagegen nichts – zwei Kinder mehr auch
nicht. Sie schaffen freilich Luft beim Lehrerbedarf.
Weniger Teilzeit. 46,5 Prozent der Grundschul-
kräfte – die meisten sind Frauen – arbeiten in Teilzeit,
weit mehr als die Erwerbstätigen insgesamt (28 Pro-
zent). Eigene Kinder sind das Hauptmotiv der
Arbeitszeitverkürzung. Eine Alternative dazu wäre,
Lehrerinnen bei der Kita-Vergabe zu bevorzugen. Die

Große Klasse Fortsetzung von S. 35 Stadt München etwa verfügt über sogenannte Kon-
tingentplätze für städtische Angestellte. Und warum
eigentlich errichten Schulträger keine Betriebskinder-
gärten für ihre Mitarbeiter?
Reichen wird das nicht. Es gibt keine andere
Branche, in der man seine Arbeitszeit von Jahr zu Jahr
so flexibel anpassen kann wie im Pädagogenberuf. In
Notzeiten kann man sich dieses Privileg nicht mehr
überall leisten. Im Konflikt zwischen der allgemeinen
Schulpflicht und den individuellen Lebensentwürfen
von Lehrkräften sollte klar sein, was Vorrang hat.
Mehr Loyalität. Lehrer sind in der Regel Beamte,
sie haben gegenüber dem Staat eine besondere Ver-
pflichtung. Im Gegenzug werden sie gut bezahlt und
niemals arbeitslos. Deshalb ist es schwer verständlich,
warum es so kompliziert ist, sie dort einzusetzen, wo
sie am meisten gebraucht werden. Erfahrene Kräfte
gehören an Brennpunktschulen, keine Seitenein-
steiger. Keine Gymnasiallehrerin sollte gezwungen
werden, Erstklässlern das Lesen und Schreiben bei-
zubringen. Aber Sachkunde oder Sport, Mathematik
und Englisch sollten sie mit einer Fortbildung in
den weiterführenden Stufen schon unterrichten
können – besser jedenfalls als Laien ohne pädagogische
Ausbildung. Das sollten auch Lehrerverbände und
Personalräte, die gegen solche »Abordnungen« oft
Sturm laufen, verstehen.
Konzentration auf den Kern. Doch vielleicht
kommt es mancherorts auf Fächer wie Sport oder
Englisch schon bald gar nicht mehr an. Vielleicht gilt


es, sich dort auch offiziell auf das Wesentliche zu kon-
zentrieren: in den Anfangsjahren also auf das Lesen,
Schreiben und Rechnen. Englisch in der Grund-
schule ist dagegen ein »Nice to have«, und das Turnen
kann vielleicht auch ein Trainer aus dem benach-
barten Verein übernehmen – bevor ein ausgebildeter
Deutschlehrer dafür seine Stunde verbraucht.
Natürlich sollte man den Lehrkräften die Härten
versüßen: mit Geld und Arbeitszeitkonten, mit Zu-
lagen in Brennpunktschulen, mit höherem Gehalt für
Grundschullehrer. Sie haben die Personalmisere
schließlich nicht verursacht. Doch es hilft ja nichts:
Die Ausbildung neuer Pädagogen dauert Jahre. So-
lange zu wenige neue Lehrer in die Schulen kommen,
müssen die vorhandenen Kollegen mehr geben.
Was wäre, wenn der Staat nicht zu wenig Lehrer
ausgebildet hätte, sondern zu wenig Chirurgen,
Feuerwehrleute oder Justizbeamte? Würden dann
Biologen oder Tierärzte in unseren Krankenhäusern
operieren? Würden Verbrecher frühzeitig aus dem
Gefängnis entlassen oder Brände nur noch in ge-
hobenen Stadtteilen verlässlich gelöscht?
In Deutschland herrscht Schulzwang, Eltern müs-
sen ihre Kinder zum Unterricht schicken. Im Gegen-
zug verpflichtet sich der Staat, allen Schülern das not-
wendige Wissen zu vermitteln, durch gut ausgebil dete
Lehrer. Schafft er es nicht, dieses Versprechen einzu-
halten, kommt er einer seiner wichtigsten Aufgaben
nicht nach. Das wäre dann nicht mehr nur politisches
Missmanagement – sondern Staatsversagen.

46,5


Prozent
der Grundschulkräfte


  • die meisten sind Frauen –
    arbeiten in Teilzeit


kommt mehr Fördergelder aus Brüssel, als es antei-
lig selbst beiträgt. Die Differenz beträgt nach unse-
rer Rechnung eine halbe Mil liar de Euro pro Jahr.
Bislang hat die Regierung nicht zugesagt, dass sie
diesen Fehlbetrag ausgleichen wird.
ZEIT: Die Royal Society hat außerdem gewarnt,
das Land könnte den Zugang zu neuen Medika-
menten verlieren. Wie das?
Ramakrishnan: Die Europäische Arzneimittel-
Agentur ...
ZEIT: ... die ihren Sitz bislang in London hatte
und nun nach Amsterdam umgezogen ist ...
Ramakrishnan: ... spielt eine zentrale Rolle bei der
Zulassung neuer Medikamente, auch wenn diese
noch in der klinischen Erprobung sind. Bislang
konnten britische Arzneimittelhersteller problem-
los an solchen Versuchen teilnehmen, egal wo sie
in der EU stattfinden. Bei einem Austritt ohne Ab-
kommen fehlte für die Zulassung und Erprobung
neuer Medikamente jede Grundlage.
ZEIT: Kurz nachdem Boris Johnson Premier-
minister wurde, sagte er in Oxford, das Land solle
nach dem Brexit sogar offener für internationale
Forscher werden. Wie soll das gehen?

Ramakrishnan: Gute Frage! Tatsächlich wird es für
mehr als 400 Millionen Europäer erst einmal
schwerer, nach Großbritannien zu kommen. Für
mich war es bislang ein reines Vergnügen, einen
EU-Bürger anzustellen: Du bietest ihm einen Job
an, und einen Monat später ist er da. Bei jeman-
dem, der aus den USA oder aus Neuseeland
kommt, ist die Visumserteilung viel aufwendiger.
ZEIT: Welche Konsequenzen hat der Brexit für die
Universitäten im restlichen Europa?

Ramakrishnan: Großbritannien ist eine der welt-
weit führenden Wissenschaftsnationen, schauen
Sie sich etwa die Zahl der Nobelpreise an. In vielen
europäischen Forschungsprojekten spielen britische
Wissenschaftler eine führende Rolle. Würden alle
Verbindungen gekappt, verlöre die EU diesen An-
trieb zur Exzellenz.
ZEIT: Die meisten Wissenschaftler und Akademi-
ker in Großbritannien haben beim Referendum
2016 für den Verbleib in der EU gestimmt ...
Ramakrishnan: ... etwa 90 Prozent!
ZEIT: Nach der Niederlage war die Überraschung
groß. Haben die Wissenschaftler den Kontakt zum
Rest der Gesellschaft verloren?
Ramakrishnan: Absolut. Als ich am Tag nach dem
Referendum mit meinen Kollegen sprach, waren
die meisten fassungslos. Sie sagten, sie würden nie-
manden kennen, der für »Leave« gestimmt habe.
Ich ließ damals gerade meine Küche umbauen –
und alle fünf Handwerker, die bei mir waren, sagten
mir, sie seien für den Brexit. Es gibt diese Abkopp-
lung zwischen einer gebildeten Schicht, die glei-
chermaßen in London, New York oder Berlin zu
Hause ist, und jenen, die nicht Teil dieser Welt sind.
ZEIT: Was bedeutet das?
Ramakrishnan: Viele Wissenschaftler fühlen sich
am wohlsten, wenn sie ungestört ihre Studien und
Experimente machen können. Aber wir können es
uns nicht mehr erlauben, in unserem Elfenbein-
turm zu bleiben. Wissensbasierte Ökonomien sind
der Schlüssel für künftigen Wohlstand. Wir Wissen-
schaftler müssen deutlich machen, dass wir nicht
um uns selbst kreisen, sondern einen wesentlichen
Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum
Wohlstand unserer Länder leisten.
ZEIT: Sie haben anfangs über den Wiederaufstieg
Europas als Wissenschaftsraum gesprochen. Wie
groß ist die Herausforderung durch China?
Ramakrishnan: Ich war 2011 zum ersten Mal in
China. Es gab schon damals ein, zwei Labore, die
hervorragende Arbeit machten. Fünf Jahre später
reiste ich erneut hin, und alles hatte sich unglaub-
lich schnell weiterentwickelt. Chinesische Wissen-
schaftler sind heute erstklassig – aber noch bestim-
men sie nicht die Agenda. Ich frage mich natürlich,
ob bahnbrechende, wirklich revolutionäre Ideen
nicht ein Umfeld brauchen, in dem man frei ist und
widersprechen kann. In der Sow jet union gab es al-
lerdings auch herausragende Physiker und Mathe-
matiker, die unter großem Zwang gearbeitet haben.
ZEIT: Die alte Frage: Wie viel Freiheit braucht die
Wissenschaft?
Ramakrishnan: Freiheit kann man nicht in Einzel-
teile aufspalten. Ich bewundere die Chinesen für
das, was sie in den vergangenen 40 Jahren erreicht
haben. Das Land hat Hunderte Millionen Men-
schen aus der Armut geführt. Jetzt investiert es
riesige Summen in Wissenschaft und Technologie.
Aber China verfolgt vollkommen andere Werte
und Ziele als wir. China will weltweit die Nummer
eins werden. Das ist doch kein Ziel!
ZEIT: Nein?
Ramakrishnan: Es geht in den Wissenschaften
nicht um Dominanz, sondern um Fortschritt und
Harmonie, einen Beitrag zu einem besseren Mit-
ein an der. Deshalb mag ich die europäische Idee.
Die EU sagt niemals: Wir wollen die Nummer
eins werden.

Das Gespräch führte Matthias Krupa

Venkatraman Ramakrishnan,
66, ist Präsident der Royal
Society, der 1660 gegründeten
ältesten Wissenschaftsorganisa-
tion der Welt. 2009 erhielt
er den Nobelpreis für Chemie

Prognosen der Schülerzahlen im Vergleich,
in Millionen Grundschülern

Mehr Schüler als erwartet


Z E I T-GRAFIK/Quelle: Bertelsmann-Stiftung

168.000
Grundschüler
zusätzlich bis 2025

auf Basis des
Statistischen
Bundesamtes
2019

KMK 2018

3,2

2019 2025 2030

3,1

3,0

2,9

36 WISSEN 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42

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