London
Blackpool
ENGENGLAND
Walzer, Foxtrott, Rumba: Im Ballsaal des Blackpool
Tower tanzen nachmittags ältere Paare
Fotos: Jacob Russell für DIE ZEIT
Der letzte Tanz
Das britische Blackpool war einst ein prächtiges Seebad. Heute ist der Ort verfallen, verarmt – und eine
Hochburg der Brexiteers. Besuch in einer Stadt, die sich nach dem Gestern sehnt VON JAN ROSS
Blackpool
I
ch mag verblasste Herrlichkeit«, sagt Jon Con-
way. Der Kandidat der Brexit-Partei für das
nordenglische Seebad Blackpool hat das Impe-
rial Hotel als Treffpunkt ausgewählt: einen
leicht verschlissenen viktorianischen Pracht-
bau direkt an der Promenade und am Meer.
Englands großer Romanschriftsteller Charles
Dickens, der Schöpfer von Oliver Twist und David
Copperfield, war hier zu Gast, ebenso neun britische
Premierminister, vom Weltkriegssieger Winston Chur-
chill bis zu David Cameron, dem unglücklichen Vater
des Referendums über den EU-Austritt seines Landes.
Konservative (Torys) und Sozialdemokraten (La-
bour) haben in Blackpool dutzendfach ihre Parteitage
abgehalten, im Imperial pflegte man sein Hauptquar-
tier aufzuschlagen. Doch es ist mehr als ein Jahrzehnt
her, dass in der Stadt zuletzt ein Parteikongress statt-
gefunden hat (es sei denn, man zählt die Versamm-
lungen der Ulk- und Protesttruppe »Monster Raving
Loony Party« mit). Blackpool im Herbst 2019 ist ein
Schauplatz des Niedergangs, teilweise ein soziales
Notstandsgebiet.
Blackpool ist eine Brexit-Stadt: Mehr als zwei Drit-
tel haben hier beim Referendum im Juni 2016 für ein
Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen
Union votiert. Die neu gegründete Brexit-Partei des
eingefleischten EU-Gegners Nigel Farage, für die Jon
Conway bei der nächsten Gelegenheit ins Unterhaus
einziehen will, hatte ihre örtliche Premiere vor wenigen
Monaten bei den Wahlen zum Europäischen Parla-
ment: Die Farage-Formation wurde mit 43,5 Prozent
der abgegebenen Stimmen bei Weitem die stärkste Par-
tei. Ihre unmittelbare politische Wucht bezieht sie aus
dem Zorn vieler Brexit-Wähler über den endlos ver-
schleppten EU-Austritt: Der offizielle Parteizweck ist
die Verteidigung des demokratischen Mehrheitsvotums
gegen die Brexit-Blockierer. Doch dahinter steht ein
viel fundamentaleres Versprechen von politischem
Wandel, eine Botschaft, die sich an die Verlierer und
die Vergessenen des modernen Großbritannien richtet,
an Krisengebiete wie das bröckelnde Seebad Blackpool.
Denn nur wenige Schritte von der Promenade land-
einwärts beginnt eine Stadtkulisse der Tristesse: he-
runtergekommene Pensionen; leer stehende und ver-
barrikadierte Geschäfte; eine Trash-Ökonomie der
Wettbüros, Nagel- und Tattoo-Studios; charity shops,
in denen gespendete Kleider, Schuhe oder Haushalts-
waren zu günstigen Preisen von Wohltätigkeitsorgani-
sationen verkauft werden. Acht der zehn am stärksten
verelendeten Quartiere in ganz Großbritannien fin-
den sich in Blackpool. Ein Kind, das heute in der
Stadt geboren wird, hat eine etwa um zehn Jahre ge-
ringere Lebenserwartung als ein Baby im reichsten
Viertel von London.
Blackpool, das im späten 19. und frühen 20. Jahr-
hundert als Urlaubsort der Textilarbeiter aus der Baum-
wollregion rund um Manchester seine Blütezeit erlebte,
das erste Seebad der Arbeiterklasse, ein
Monument der Freizeitdemokratie,
geschmückt mit landesweit berühm-
ten Wahrzeichen wie einem Riesenrad
und dem vom Eiffelturm inspirierten
Blackpool Tower – Blackpool ist durch
den Kollaps der nordenglischen In-
dustrie und den Billigflugtourismus
ans Mittelmeer nach und nach ausge-
zehrt worden und heute nur noch eine
Ruine seiner einstigen Größe.
Jon Conway, 61 Jahre alt, jungenhaft
glattes (wenngleich etwas gerötetes)
Gesicht, lebt gar nicht in der Stadt,
sondern im reichen Süden Englands, aber er nennt Black-
pool seine zweite Heimat: Hier ist er zu Beginn seiner
Karriere als Zauberer und Stand-up-Comedian aufgetre-
ten, hier hat er später als Entertainment-Unternehmer
seine Produktionen auf die Bühne gebracht.
»Ich bin immer noch ein sechsjähriger Junge im
Zirkus« (dem Geschäft seines Vaters), erklärt er seine
Faszination durch die Las-Vegas-Atmosphäre des Or-
tes. Wir sitzen im Zentrum von Blackpool, in einer
Musik- und Tanzshow unter einem Seniorenpubli-
kum an festlich gedeckten Tischen mit ziemlich gu-
tem Essen. »Es ist alles eine Frage der Wahrneh-
mung«, sagt Conway, »man sagt, dies stirbt aus, aber
mehr Leute sehen diese Art-Show als die großen
Pop-Bands.« Es sei im Grunde dasselbe in der Poli-
tik: Der Brexit werde als Projekt alter Leute darge-
stellt – während da in Wahrheit massenhaft Stimmen
und Energie lägen.
»Change politics for good«, lautet der Slogan der Brexit-
Partei – ein Wortspiel: »for good« bedeutet »zum Guten«,
aber auch »endgültig«, »ein für alle Mal«. Der Brexit soll
ein historischer Wendepunkt werden, ein revolutionärer
Moment: die Wiederherstellung nationaler Solidarität
und Gerechtigkeit. Conway spricht von den Mitteln, die
seine Partei für Strukturhilfen an benachteiligte Regionen
besonders im Norden Englands freimachen will. Der Ent-
wicklungshilfe-Etat soll halbiert, ein umstrittenes Hoch-
geschwindigkeitszug-Projekt gestrichen und die vorgese-
hene Abschlusszahlung an die EU in Höhe von rund 39
Mil liar den Pfund einbehalten werden.
Aber was Conway mindestens
ebenso sehr will, ist ein Elitenaus-
tausch: »die Zusammensetzung der
Leute verändern, die uns repräsentie-
ren« – weg von den vermeintlich
volksfremden, problemvergessenen Par-
lamentariern und Bürokraten, die bis-
lang in London den Ton angegeben
haben. Conway erzählt vom Grün-
dungstreffen des lokalen Ablegers der
Brexit-Partei in Blackpool: Es versam-
melten sich eine junge schwarze Frau,
ein Taxifahrer, ein pensionierter Kon-
teradmiral und er. Ein bunter Haufen.
Da habe er gewusst: Hier bin ich richtig.
Conway ist ein jovialer Typ, und als Kandidat dürf-
te er sich allzu radikale Äußerungen gar nicht leisten.
Aus dem Bauch der Brexit-Partei in Blackpool kann
man aber auch rauere, verbittertere Stimmen hören.
John Woodman, Mitte siebzig, ein Farage-Unterstüt-
zer, der früher für das britische Militär gearbeitet und
dann eine Firma für Investitionsberatung gegründet
hat, redet vom Unterhaus, das den EU-Austritt bislang
nicht vollzogen hat, als dem »sogenannten Parlament«
und nennt es »eine fragwürdige Kraft«. Großbritannien
ist in seinen Augen »ein rückständiges Land«. Normale
Bürger hätten das Gefühl, »dass sie ihr Leben nicht
mehr unter Kontrolle haben«. Woodman beschreibt
die englische Provinz als Wüstenei – nicht bloß ver-
nachlässigt, sondern eigentlich schon aufgegeben: Ban-
ken schließen ihre Filialen, die Supermarktkassen wer-
den auf Selbstbedienung umgestellt.
Die Briten, so Woodman, seien lange als nette, zivile
Gesellschaft für selbstverständlich genommen worden,
aber nun seien sie »total wütend«. Der Wandel komme.
Auch John Woodman wirkt von Hause aus alles andere
als aggressiv; sein Ton mit seinem deutschen Ge-
sprächspartner ist ohne jede nationalistische Feindse-
ligkeit (obwohl er sich über die mangelnde Dankbar-
keit der Kontinentaleuropäer für die britischen Opfer
im Zweiten Weltkrieg beschwert). Doch klingt aus sei-
nen Worten eine geradezu lustvolle Erwartung kom-
mender Umstürze, in seltsamem Kontrast zur soliden
Rentnergestalt des Mannes, wie er da im plüschigen
Salon des Imperial sitzt.
Noch immer, trotz seines Niedergangs, besitzt Black-
pool Zauber genug, dass man die Probleme der Stadt und
des ganzen Vereinigten Königreichs stundenweise darüber
vergessen kann. In den Blackpool Tower, das Eiffelturm-
Imitat aus dem Jahr 1894, haben die Architekten einen
prunkvollen Ballsaal eingebaut, in dem heute nach wie vor
am Nachmittag ältere Paare zu den Klängen einer gewal-
tigen Wurlitzer-Orgel Walzer, Foxtrott oder Rumba tan-
zen. Der Tanztee ist ein unzeitgemäßer, leicht kurioser –
und in seiner altmodischen Zivilisiertheit höchst anrüh-
render Anblick.
Nur stehen gegen den Charme der Vergangenheit
unversöhnlich die Zerstörungen der Gegenwart. Im
Claremont First Step Community Centre, einer Wohl-
fahrtseinrichtung unweit der Promenade, wird jeweils
am Donnerstag eine Tafel eingerichtet, an der sich Be-
dürftige mit Lebensmitteln versorgen können. Wäh-
rend sich das Zentrum auf die Essensausgabe vorberei-
tet (aus dem Hintergrund schaut eine monumentale
Pappmaschee-Büste der Königin zu), erzählt die Leite-
rin, Joanna Shepherd, von einer jungen Frau, die bei
ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus erklärt bekam,
sie müsse nun regelmäßig ein Medikament einnehmen.
Sie tat es aber nicht. Man durfte die Medizin nämlich
nicht auf nüchternen Magen nehmen. Die junge Frau
jedoch hatte immer einen nüchternen Magen.
Sie konnte sich kein Essen leisten.
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Jon Conway, Kandidat der
Brexit-Partei, im Imperial Hotel
Eines der Wahrzeichen der Stadt ist
dem Eiffelturm nachempfunden
Kein Schutz vor dem Regen: Verrammeltes
Geschäft in der Innenstadt
4 POLITIK 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42