ENTDECKEN
I
ch bin der Chef eines großen Haufens
von Beknackten. Wir sind die »Boo
Crew«, die Halloween-Erschrecker aus
dem Heidepark. Wer auf uns trifft, findet
heraus: Wie laut kann ich schreien? Wie
schnell kann ich rennen?
Mit dem Erschrecken haben wir 2004
angefangen, mittlerweile sind wir ein ein-
getragener Verein mit über 120 Leuten. Hier
ist niemand professioneller Schauspieler, nie-
mand Maskenbildnerin – trotzdem machen
wir alles selbst. Wir planen und bauen die
Attraktionen, wir denken uns Rollen aus und
präparieren die Requisiten. Der Park gibt uns
Geld, um die Attraktionen umzusetzen, aber
wir arbeiten alle ehrenamtlich. Erschrecken ist
unser Hobby.
Spätestens im Februar legen wir los. Die
kommenden Monate über verbringen wir
unsere Wochenenden im Freizeitpark, wir
bauen Freitagabend bis Sonntagabend. Ab
Montag arbeite ich dann wieder in der IT.
Und für Halloween nehme ich Urlaub. Die
Vorbereitung dauert ungefähr ein Jahr – für
sechs Abende!
Der Park bezahlt auch die Profi-Schminke,
die Technik und die Kostüme. Wir kaufen
keine billigen Karnevalsfummel, es soll ja
möglichst echt aussehen. Die Kostüme wer-
den dann noch mal bearbeitet, wir nennen
das »Eindrecken«.
Ich fiebere jedes Mal dem ersten Abend ent-
gegen: Auch als Erschrecker ist es immer eine
kleine Premiere, wenn es heißt: »Die ersten
Gäste kommen!« Das ist mein Adrenalinkick,
vergleichbar mit dem, was ein Schauspieler auf
der Bühne empfindet. Wir verwandeln uns
dann in kichernde Clowns und geifernde Un-
tote. Ein Mal war ich der Besitzer eines Hor-
rorhotels. Die Besucher mussten in kleinen
Gruppen durch das düstere Hotel laufen, wir
lauerten in dunklen Ecken, umschlichen unse-
re Opfer, verfolgten sie und kreisten sie ein.
Dabei kamen wir ihnen so nah, das wir ihre
Augenfarbe sehen konnten.
Wir fassen niemanden an und quälen auch
nicht weiter, wenn jemand schon fix und fertig
ist. Mit der Zeit bekommt man einen Blick für
die Menschen: Wer ist völlig fertig? Wer verträgt
noch einen scare? Wer macht auf dicke Hose?
So wie der junge Mann, der anfangs vor den
Kumpels den Starken gemacht hat – bei mir saß
er am Ende weinend auf dem Boden. Dabei
geht es nicht nur um Schockeffekte. Angst geht
sehr viel tiefer, wenn es mir gelingt, dass sich die
Gäste über mehrere Minuten unwohl fühlen.
Sie sollen sagen: Das war das Krasseste, was ich
je erlebt habe!
Ein Sadist bin ich nicht, die Gäste wollen ja
erschreckt werden. Natürlich ist immer ein biss-
chen Schadenfreude dabei, aber eben auch
Freude darüber, dass es mir gelungen ist, je-
manden an seine Grenzen zu bringen. Wenn die
Besucher Spaß haben, ist das meine Beloh-
nung – oder auch wenn jemand schreiend raus-
rennt. Manche lachen sogar, wir haben auch
schon Applaus bekommen. Und eine Frau hat
sich mal so heftig erschrocken, dass sie mir die
Hand tasche ins Gesicht gezimmert hat.
... anderen Angst
einzujagen
WIE ES WIRKLICH IST
Jan Stöhlmacher, 47, ist
Chef-Erschrecker der Angstmacher im
Heidepark und wohnt in Hamburg
Am frühen Morgen an der Elbe entlang zur
Arbeit zu radeln, in der aufgehenden Sonne,
vorbei an Fischreihern, Enten und Gänsen,
und zu denken, dass das wohl der schönste
Arbeitsweg der Welt sein muss!
Michaela Bräunling, Dresden
Unverhofft mit 41 so leidenschaftlich geküsst zu
werden, dass es einem den Boden unter den
Füßen wegreißt. Als wäre es das erste Mal.
Stefanie Kim, Berlin
Mein Herz ist schwer, denn ich bin unterwegs zu
einer großen Herzuntersuchung, Altern halt.
Als ich die Läden des Quartiers passiere, bleibt
mein Blick an einem etwa fünfjährigen Mäd-
chen hängen, das am Straßenrand Muffins zum
Verkauf anbietet. Sie sind mit kleinen Elefan-
ten bestreut und »selbst gebacken«, wie sie ver-
sichert. Um die Ecke lugt ein Freund, der etwas
älter sein mag, also vielleicht fünfeinhalb.
Ich kaufe! Mein Herz hüpft! Erleichtert!
Angelika Max-Günthner, München
Wenn der städtische Arbeiter seinen Laubbläser
ausschaltet, wenn ich an ihm vorbeiradle.
Cornelia Schotte, Schwabach
Ich sitze im ICE und kann es kaum fassen, als
ich in der ZEIT Nr. 40/19 den ersten Beitrag
dieser Rubrik lese und feststelle, dass mein
Gandhi-Aufkleber das Leben von zumindest
einem Menschen reicher gemacht hat!
Cornelia Fobel,
Offenburg, Baden-Württemberg
Aus dem Urlaub in der Schweiz schickte ich
meiner Enkelin (acht Jahre alt und Pferdelieb-
haberin) das Foto eines Pferdes, das auf einer
Alm graste. Postwendend bekam ich auf mein
Handy die Nachricht: »Opa, kannst du mir das
Pferd adoptieren?«
Toni Knupfer, Schwendi, Baden-Württemberg
Nach langwieriger Suche habe ich in Berlin, kurz
vor Beginn meines Studiums, tatsächlich eine
Wohnung gefunden. Wenn ich auf meinen neuen
Balkon trete, sehe ich nicht nur die riesige Stadt
mit Alex und Fernsehturm – sondern auch eine
spannende Zukunft vor mir liegen.
Justus Jansen, Berlin
Auf Kreta begegne ich einem Straßenmusiker. Ein
Tenorsaxofonist ohne Zuhörer. Ich setze mich auf
die gegenüberliegende Bank. Ein Privat konzert
nur für mich.
Anselm Kerem Strauß, Saarbrücken
Dieses besondere Geräusch, der Blick in den
Himmel und, tatsächlich, da sind sie: die Wild-
gänse auf dem Weg in den Süden.
Und sie machen mich auch nur ein bisschen
wehmütig, denn ich weiß, sie kommen wieder.
Brigitte Neuhaus, Osnabrück
Leben
Wa s mein
reicher macht
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
berichten möchten,
melden Sie sich bei uns: [email protected]
Machen Sie mit!
Schreiben Sie uns, was ihr Leben reicher macht,
teilen Sie Ihre »Wortschätze« und
»Zeitsprünge« mit uns.
Beiträge bitte an [email protected] oder an
Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
Aufgezeichnet von Christopher Bonnen
Vorher/Nachher: Baumhaus
Mein Bruder und ich studieren und sind längst zu Hause ausgezogen. Dennoch wurde
mir das Ende meiner Kindheit erst richtig klar, als wir jüngst im elterlichen Garten unser
marode gewordenes Baumhaus abbauten: Dort oben auf dem Kirschbaum haben wir
viele Nachmittage verbracht und einmal auch mit vier anderen Kindern die Nacht
zum Tage gemacht. Der Abbau des vom Vater mit armlangen Schrauben verankerten
und vom Bruder mit Fußbodendielen versehenen Häuschens war wie eine archäologische
Ausgrabung. Im nahenden Winter dient es nun einem neuen Zweck: als Feuerholz.
Judith Kirschner, Esslingen am Neckar
ZEITSPRUNG
»Stieselig«
Aus meiner Jugend im
Bergischen Land ist mir
noch heute das Wort
stieselig geläufig.
Man bezeichnete damit
jemanden, der sich
ungeschickt und
unbeholfen anstellte oder
wenig anpassungsfähig
zeigte. Er wurde
oft als etwas seltsam
angesehen.
Karl-Josef Mewaldt, Buxheim, Bayern
MEIN WORTSCHATZ
Im Dezember blickt die ZEIT auf das Jahr zurück.
Eine Seite wollen wir dabei unseren Leserinnen und Lesern widmen.
Schreiben Sie uns bis zum 8. November,
welche Entdeckungen Sie in diesem Jahr gemacht haben.
Beiträge bitte an: [email protected]
Die schönsten Beiträge aus »Was mein Leben reicher macht« und
»Mein Wortschatz« gibt es jetzt als Abreißkalender für 2020.
Für 15,99 Euro erhältlich im Buchhandel oder unter shop.zeit.de
Wa s ha t
2 019
für Sie
reicher gemacht?
Die Gesellschaft meiner Havaneser-Hündin
Paula beim Zeitunglesen. Ganz offensichtlich
ist es am Sonntagabend nicht nur mit, sondern
auch unter der ZEIT sehr gemütlich!
Alexandra Dittrich, Dornbirn, Österreich
Fünf Jahre lang betreue ich einen jungen Mann,
der in einer Einrichtung für Behinderte lebt. Den
Hautkrebs überwindet er dank Chemotherapie
und Operationen, er freut sich schon auf seine
Arbeit im Tierpark. Da wird ein nicht behandel-
barer Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert.
Mit Geduld geht er den zu erwartenden Weg,
der zunächst zurück in die Wohnung seiner
Eltern und schließlich in die Palliativstation
der Uni-Klinik führt. Dann der Anruf des Sta-
tionsarztes: Es geht ihm deutlich schlechter.
Sein Atem setzt immer häufiger aus.
In seinem Zimmer sitzen die Eltern und drei
seiner fünf Geschwister. Aber der Stuhl direkt an
seinem Bett ist frei. Nein, sagen die Eltern, das
könnten sie nicht.
Ich rede leise mit ihm. Während ich seine Hand
halte, erzähle ich ihm, dass wir jetzt über eine
Blumenwiese gehen. Schildere ihm den Fluss, der
am Ende der Wiese fließt, und die Brücke, die
über ihn führt, zur gegenüberliegenden Wiese.
Bis zum Ufer darf ich dich noch begleiten, sage
ich, aber nicht über die Brücke.
Dann lasse ich seine Hand los. Der Atem setzt
aus. Ein Herzschlag ist nicht mehr feststellbar.
Wulf Köster, Fernwald, Hessen
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: Steffen Keitel; privat
Clyde ist ein Dreifinger-Faultier und lebt in Panama. Während des Fotoshootings war er entspannt und etwas schläfrig, also wie immer. Fotografiert von Joel Sartore
Du siehst aus, wie ich mich fühle
(Folge 174)
80 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42