FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 geld&mehr 29
E
s ist davon auszugehen,
dass bei Osram am Freitag-
abend die Korken knall-
ten. Ein solches Schluss-
bild des gescheiterten Übernahme-
versuchs durch AMS entspräche je-
denfalls der Stimmungslage, die in
den Wochen seit dem Angebot des
österreichischen Sensorherstellers
herrschte. Osram-Chef und Be-
triebsrat zweifelten öffentlich an
Sinn und Zweck der Übernahme,
Aufsichtsrat und Vorstand des
Lichtkonzerns empfahlen den Ak-
tionären eher zähneknirschend, das
AMS-Angebot anzunehmen. Ob
die Anteilseigner die Skepsis teilten
oder ob sie sich angesichts eines al-
ternativen Übernahmeplans ameri-
kanischer Finanzinvestoren schlicht
nicht durchringen konnten, ist
nicht ersichtlich. So oder so: Die
Mindestannahmeschwelle wurde
verfehlt, die Übernahme ist geschei-
tert, obwohl AMS sein erstes Ange-
bot nachgebessert hat.
Und nun? Was werden die mehr
als 400 000 Aktionäre, darunter au-
ßergewöhnlich viele Privatanleger,
jetzt tun? Das nächste Angebot, so
viel scheint sicher, kommt be-
stimmt. Womöglich kommt es von
den Finanzinvestoren Bain und Ad-
vent, die immer noch die Osram-
Bücher studieren und eine konkre-
te Offerte in Aussicht stellen. AMS
teilte am Freitag mit, dass es die
Aquisition weiter verfolge.
Die Voraussetzungen dafür ha-
ben die Österreicher geschaffen, in-
dem sie sich in den vergangenen
Wochen knapp 20 Prozent der Os-
ram-Anteile auf Pump gesichert ha-
ben. Gibt es keine kartellrechtli-
chen Einwände, wovon auszugehen
ist, könnte AMS weiter zukaufen –
dann wohl zu einem günstigeren
Preis. Denn der Osram-Kursan-
stieg der vergangenen Monate war
nur getrieben von der Übernahme-
phantasie, der Kurs dürfte nun erst
einmal nachgeben. Erreicht AMS
30 Prozent, müsste es ein Pflicht-
übernahmeangebot machen.
AMS ist der nun mit Abstand
größte Einzelaktionär bei Osram
und kann vieles abblocken. Das
macht es für Bain und Advent
schwieriger, sich weiter nach vorne
zu wagen. Dennoch ist aber davon
auszugehen, dass sich die Übernah-
meschlacht fortsetzt und die Aktio-
näre bald wieder umgarnt werden.
Solange können sie ihre Anteile hal-
ten – auch wenn die Aussichten in
den für Osram wichtigen Branchen
Auto und Smartphone immer trü-
ber werden. Doch selbst nach drei
Ergebniswarnungen seit 2018 ist die
Geduld vieler Osram-Aktionäre of-
fenbar noch nicht so weit am Ende,
dass sie großen Verlockungen auf
die Schnelle erliegen.
A
m 23. September erschien in der Ber-
liner „tageszeitung“ (taz) ein um-
fangreicher Artikel über Ludwig
Erhard mit dem Titel „Ein Profiteur der
Nazis“. Die taz-Redakteurin Ulrike
Herrmann behauptet darin, dass Erhards
Wirken während der Naziherrschaft bis
heute tatkräftig verschwiegen würde. Als
Wissenschaftler sei er gescheitert, weil er
seine Habilitationsschrift nicht vollende-
te, und als Geschäftsführer des Nürnber-
ger Instituts für Wirtschaftsbeobachtung
sei er bestens über die Judenverfolgung
informiert gewesen. Er habe davon profi-
tieren wollen, indem er Gutachten ein-
warb. Erhard habe in völkischen Katego-
rien gedacht, und es sei für ihn fraglos
klargewesen, dass Polen keine Rechte be-
säßen und den Deutschen zu dienen hät-
ten. Er hätte kein Problem darin gese-
hen, fremdes Leid auszuschlachten. Mit
der Währungsreform von 1948 habe er
nichts zu tun gehabt, und die von ihm
durchgeführte Freigabe der Preise habe
zu starker Inflation geführt, die vor al-
lem Arme getroffen habe. Nach der Lek-
türe dieses Artikels reibt man sich ver-
wundert die Augen und fragt sich, ob
nun alle nach Ludwig Erhard benannten
Straßen, Festsäle und Schulen umbe-
nannt werden müssen.
Historiker geben Entwarnung. Sie wei-
sen darauf hin, dass sich die Autorin auf
in den neunziger Jahren erschienene Bio-
graphien stützt und die dort dokumen-
tierten Fakten auf ihre Weise interpre-
tiert. Der an der London School of Eco-
nomics and Political Science lehrende
Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl ur-
teilt: „Hat Erhard für NS-Stellen gearbei-
tet? Ja. Hat er sich dabei ideologisch her-
vorgetan? Die Forschung hat eher den
gegenteiligen Eindruck gewonnen.“ In
seiner im Krieg verfassten Denkschrift
über die Beseitigung des Schuldenüber-
hangs nach einem verlorenen Krieg skiz-
zierte Erhard einen Schuldenschnitt im
Zug einer Währungsreform. Die von
der amerikanischen Regierung beauftrag-
ten Experten für die Durchführung der
Währungsreform im Jahr 1948 kannten
diesen Plan. Nach der von Erhard verfüg-
ten Freigabe der Preise stieg die Infla-
tion tatsächlich zunächst an, schwächte
sich im Laufe von 1949 aber wieder ab.
Wenn das alles schon gut erforscht
und die von einzelnen Autoren erhobe-
nen irreführenden Anschuldigungen be-
kannt sind, stellt sich die Frage, warum
die taz nun Erhard als Freund und Profi-
teur der Nazis darstellt. Möglich ist, dass
man mit schockierenden „Fake News“
einfach die Auflage stärken will. Zu einer
Zeitung, die aus dem „Tunix-Kongress“
1978 als Projekt einer „neuen linken Ta-
geszeitung“ hervorging, passt dies je-
doch nicht. Wahrscheinlicher ist, dass
die Autorin und die sie beschäftigende
Zeitung die Erzählung des Liberalismus
schädigen wollen, indem sie das liberale
Idol Ludwig Erhard in die Nazi-Ecke
stellen. Für konstruktivistische Gesell-
schaftstheoretiker war die Idee, dass die
Gesellschaftsordnung der Freiheit des
Einzelnen dienen und nicht nach ihren
Vorstellungen geformt sein soll, schon
immer ein Dorn im Auge. Die russi-
schen Bolschewisten wollten in einer von
ihnen geführten Diktatur des Proletari-
ats den Menschen eine klassenlose Ge-
sellschaft aufzwingen. Dies führte zu un-
ermesslichem Leid und schließlich zum
Bankrott des real existierenden Sozialis-
mus. Kürzer, aber ähnlich leidvoll verlief
die Umsetzung faschistischer und natio-
nalsozialistischer Gesellschaftstheorien.
Immer wieder brach der Drang nach
Freiheit und Wohlstand durch, den nur
eine freiheitlich organisierte Gesellschaft
befriedigen kann.
Seit der Finanzkrise von 2008 haben
sich nun linke und ökologische Gesell-
schaftstheoretiker zu einem neuen An-
griff auf die liberale Ordnung verbün-
det. Der „Neoliberalismus“ wird für die
Krise verantwortlich gemacht, obwohl
es die Instrumentalisierung der Geld-
schöpfung durch Kreditvergabe für poli-
tische Zwecke war, die zu Schulden-
boom und -bust geführt hat. Und die
mit der liberalen Ordnung einhergehen-
de kapitalistische Wirtschaftsweise wird
als Bedrohung der Lebensgrundlagen
der Menschheit erklärt, obwohl diese
Wirtschaftsweise die Existenz der meis-
ten heute lebenden Menschen über-
haupt erst ermöglicht hat. Links-grüne
Theoretiker und politische Aktivisten
kämpfen gegen die liberale Erzählung,
weil sie den Menschen ihre Lebensziele
aufdrängen wollen, statt sie ihre eigenen
Ziele verfolgen zu lassen.
Die verbliebenen geistigen Erben Lud-
wig Erhards in CDU und FDP lassen
sich von den konstruktivistischen Gesell-
schaftspolitikern kleinlaut in die Ecke
drängen. Sie scheuen die Konfrontation,
obwohl sie wissen, dass die von diesen
Aktivisten geforderte Politik zu Verlust
an Freiheit und Wohlstand führt. Es ist
höchste Zeit, die Erzählung von der Frei-
heit offensiv zu verbreiten.
Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von
Storch Research Institute und Professor an der Universi-
tät Witten/Herdecke.
D
er gebeutelte Kunde ist schon
so einiges gewohnt: fehlerhaf-
te Lieferungen, miserable Pro-
dukte, schlechter Service. Nor-
malerweise kann er sich dann wenigstens
mit einer Kündigung wehren oder mit ei-
nem Rücktritt vom Vertrag. Nur selten
aber ist es umgekehrt: dass der Kunde
selbst einfach vor die Tür gesetzt wird,
weil das Marktumfeld nicht stimmt. Das
allerdings erleben gerade Tausende von
Bankkunden, die jahrelang fleißig in ihre
Sparverträge eingezahlt haben. Nun wol-
len die Banken das Geld nicht mehr ver-
zinsen und schmeißen ihre Kunden im
hohen Bogen raus.
Die Sparkasse München hat gerade
28 000 solcher Prämiensparverträge ge-
kündigt, die Sparkasse Nürnberg mehr
als 20 000. Dutzende andere Banken
verfolgen ebenfalls diese Linie, weil
sie in Zeiten von Niedrig- oder gar Ne-
gativzinsen ihre Versprechen üppiger
Prämien nicht mehr halten wollen.
Dem sollten sich Sparer allerdings
nicht klaglos fügen. Manchmal hilft ein
genauer Blick ins Kleingedruckte, um
zu sehen, ob eine Kündigung recht-
mäßig war.
Dazu muss man wissen: Prämien-
sparverträge waren besonders in den
neunziger Jahren sehr beliebt. Ihren
Namen verdanken diese Produkte
der jährlichen Prämie, die zusätzlich
zu einem Grund- oder Basiszins ge-
zahlt wird. Je länger der Vertrag
läuft, desto höher wird die von Be-
ginn an festgelegte Prämie, manchmal
erreichte sie sogar bis zu 50 Prozent der
jährlichen Einzahlung.
In ihrem Bemühen, sich dieser Last zu
entledigen, fühlen sich die Banken vom
Bundesgerichtshof (BGH) ange-
spornt. Das höchste deutsche Zivilge-
richt hatte im Mai nämlich klarge-
stellt, dass Kreditinstitute durchaus be-
rechtigt sind, zeitlich unbefristete Sparver-
träge zu kündigen(Az.: XI ZR 345/18). Al-
lerdings geht das erst nach Erreichen der
höchsten Prämienstufe und unter
Berufung auf das ordentliche AGB-
Kündigungsrecht. Das bedeutet im Um-
kehrschluss: Bis zu diesem Zeitpunkt ist
das Kündigungsrecht der Bank ausge-
schlossen.
Das war ein ziemlicher Schlag ins
Kontor der Kunden, schließlich hatte es
jahrelang zuvor auch Ärger in der umge-
kehrten Richtung gegeben: Als die Zin-
sen nämlich noch höher standen, gab es
immer wieder Klagen, die Banken gäben
nicht genug an ihre Kunden weiter.
Denn wegen der variablen Grundverzin-
sung war eine exakte Berechnung des Er-
trags sehr kompliziert und ging meist zu
Lasten der Sparer. „Da wurde schon viel
getrickst“, sagt Rechtsanwalt Guido Len-
né aus Leverkusen, der schon einige Spa-
rer vertreten hat. Verbraucherzentralen
warnen davor, dass Kunden so je nach
Sparsumme über die Jahre Zinszahlun-
gen in Höhe eines vierstelligen Betrags
verlorengingen.
Auch die Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht (Bafin) hat schon
untersucht, ob Institute systematisch
Kunden benachteiligen, indem sie bei
Verbraucherkrediten Zinsänderungen
mit ungerechtfertigter Verzögerung
an die Kunden weitergeben. In sieben
Fällen hatte sie tatsächlich festgestellt,
dass Vertragsklauseln gegen geltendes
Recht verstoßen.
Die Finanzinstitute tun derweil alles,
um sich des Problems der Sparverträge
ganz zu entledigen. Sie argumentieren,
in diesem niedrigen Zinsumfeld zahl-
ten sie bei solchen Verträgen nur
drauf. Inzwischen müssen Banken
sogar Strafzinsen für Einlagen bei
der Europäischen Zentralbank
(EZB) entrichten. Seitdem sie im Mai
vom Bundesgerichtshof in dieser Hin-
sicht Schützenhilfe bekommen haben,
fürchten Verbraucherschützer, dass die
Banken dabei über die Stränge schlagen
und auch Verträge kündigen, die die en-
gen Voraussetzungen der Richter nicht
erfüllen.
Das fängt schon damit an, dass einige
Verträge gar nicht unbefristet gelten, son-
dern eine Laufzeit von 99 Jahren vorse-
hen, angeblich, weil in bestimmten Kon-
stellationen aus banalen technischen
Gründen keine unbefristeten Laufzeiten
angegeben werden konnten. Die Banken
argumentieren nun, dass die Angabe der
99 Jahre als Synonym für einen unbefris-
teten Vertrag genutzt wurde und diese
Vereinbarungen deshalb ebenfalls vorzei-
tig gekündigt werden können. Dem aller-
dings widersprechen Verbraucheranwäl-
te vehement: Juristen hantieren nicht ger-
ne mit Synonymen. 99 Jahre sind 99 Jah-
re und eben nicht „unbefristet“. Wichtig
ist bei der Bewertung der Kündigung zu-
dem die Frage, ob in dem Vertrag wirk-
lich schon die höchste Prämienstufe er-
reicht wurde, erst dann dürfe der Vertrag
gekündigt werden.
Aufgeschreckt durch das BGH–Ur-
teil, geben jetzt viele Kunden klein bei,
wenn die Kündigung ins Haus flattert,
doch das muss nicht sein. Wer rechts-
schutzversichert ist, kann ohne Risiko
den Rechtsweg beschreiten. Aber selbst
wenn diese Versicherung fehlt, kann es
hilfreich sein, sich die Sache einmal ge-
nauer anzuschauen, Verbraucherverbän-
de bieten dazu einen Musterbrief auf ih-
rer Internetseite. Nicht immer müsse
eine solche Auseinandersetzung zwangs-
weise in einen jahrelangen Rechtsstreit
münden, sagt Bankrechtler Lenné. Viele
Kreditinstitute ließen sich auch auf einen
außergerichtlichen Vergleich ein, um
den Kunden milde zu stimmen. Schließ-
lich wüssten sie genau, dass der BGH ih-
nen mit dem Grundsatzurteil keine
Carte blanche erteilt habe. In solchen
Fällen kann der Streit dann auch ganz
schnell erledigt sein. Innerhalb von drei
Wochen bis drei Monaten könne so eine
Einigung erreicht werden.
Auf zum nächsten
Kampf um Osram
WIE GEHT ES DER WELTWIRTSCHAFT, HERR MAYER?
Sparer,
wehrt
euch!
VON THOMAS KLEMM
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DIE ERTRÄGE STEIGEN
DIE LANDWIRTE WERDEN PRODUKTIVER
DIE DEUTSCHEN GEBEN WENIG FÜRS ESSEN AUS UNSERE ESSGEWOHNHEITEN VERÄNDERN SICH IM BIOLANDBAU WIRD WENIGER GEERNTET DÄNEMARK IST VORREITER IM BIOVERZEHR
UNTERERNÄHRUNG NIMMT WIEDER ZU VIEL GETREIDE LANDET IM FUTTERTROG
Quellen: statista; Destatis; FAO; BMEL; Wirtschaftliche Vereinigung Zucker; F.A.Z.-Archiv; Stockunlimited; Freepic
Verwendungsbereiche des weltweiten Getreidekonsums
Lebensmittel
Industrielle Verwertung, Biokraftstoffe
Tierfutter
Anteil der Bioprodukte am Lebensmittelverzehr
Unterernährte Menchen auf der Welt, in Millionen
Dänemark
Schweiz
Österreich
Deutschland
Frankreich
Niederlande
Italien
Spanien
Großbritannien
Polen
2005 2015 2016 2017 2018
Anteil am privaten Verbrauch
(einschließlich Genussmittel)
Pro-Kopf-Verbrauch folgender Lebensmittel in kg
So viele Menschen ernährt ein Landwirt in Deutschland
Erträge in Tonnen je Hektar im Zeitvergleich
1900 1925
(2018)
1950 1975 2000 2017
Weizen
Gemüse, Salat
Obst
Fleisch
Brot
Kartoffeln
Zitrusfrüchte
Öle, Fette
Eier (Stück)
Fisch
Roggen
Kartoffeln
Zuckerrüben
1898-1902 2019
57%
47%
44%
1,9
1,5 5,2
1,9 7,4
1,5
13,0 37,6
27,7 63,1
5,2
23%
1900 2017
99,6
822
46%36%
18%
797 812
785
947
96,0
87,7
13,3%
9,0%
8,6%
5,1%
4,4%
4,4%
3,2%
2,8%
1,5%
0,2%
40%
80%
75%
80,0
56,3
30,9
19,0
13,5
230
Milch
Weizen
Mais
61,5
43,4
47,0
139,2
271,1
1,9
3,2
6,2
90
15% 14%
Deutscher Ernteertrag
im Bioanbau im Vergleich
zur konventionellen
Landwirtschaft
gerundete Angaben
Banken kündigen gut
verzinste Sparverträge und
berufen sich dabei auf
ein Gerichtsurteil. Doch
so einfach ist das nicht.
Von Corinna Budras
Die Landwirte ernten genug, um alle Menschen
auf der Welt satt zu machen. Trotzdem steigt die
Zahl der Unterernährten.
Von Sebastian Balzter und Andreas Niebel (Grafik)
Ludwig Erhard, ein Nazi?
Dem „Vater“ des Wirtschaftswunders wird völkisches Gedankengut
vorgeworfen. Es ist ein Versuch, die liberale Ordnung zu diskreditieren.
Hunger und
Überfluss
Foto F1Online