46 reise FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40
Schon in der Kindheit lernten wir im
Fernsehen durch Wickie, wie tief Ein-
fallsreichtum und Wagemut in den Her-
zen der Nordmeerfahrer verankert sind.
Heute zeigt uns die im Internet gestream-
te Serie „The Terror“, wie die Suche
nach der Nordwest-Passage im 19. Jahr-
hundert Seefahrer auf ihre härteste Pro-
be stellte, weil die Hybris der erobe-
rungssüchtigen Europäer sie in lebens-
feindliche Regionen führte, in denen das
Überleben nur den Ureinwohnern, den
Inuit, gelang, weil sie sich stets nach der
Natur richteten, anstatt sie bezwingen zu
wollen (siehe auch Seite 48).
„The Terror“ zeigt aber auch, wie ko-
lossal unheimlich ein Gewitter in der
Winternacht am Polarkreis aussieht und
mit welcher Gleichgültigkeit die Leucht-
farben der Northern Lights über die
Tragik sich auftürmender Eisschollen da-
hinziehen, an denen wie bei Caspar Da-
vid Friedrich im Gemälde Schiffe zer-
schellen. Grönland lässt sich eben nicht
kaufen, es ist mit seinen Eisbergen die
letzte Bastion der gefrorenen Schönheit,
wie sie die amerikanische Fotografin
Lynn Davis seit den 1980er Jahren in ei-
ner beeindruckenden Serie in und um
die berühmte Disko Bay für eine Nach-
welt festhält, die vielleicht einst ohne
diese bizarren Monumente wird leben
müssen. Ihre Eisberge sind zerbrechli-
che Lebewesen, die in jedem zerklüfte-
ten Frostabbruch von ihrer existentiel-
len Bedrohung erzählen.
In Thomas Bernhards erstem Roman
„Frost“ erhält ein Student der Medizin
den Auftrag, einen Künstler zu beobach-
ten, den Maler Strauch, der weltverlas-
sen in der Wildnis lebt und am Ende ver-
schwindet. Bernhard bekam für „Frost“
den Bremer Literaturpreis. In der Dan-
kesrede skizzierte er seine Zukunftsvisi-
on: „Mit der Klarheit nimmt die Kälte
zu. Diese Klarheit und diese Kälte wer-
den von jetzt an herrschen. Die Wissen-
schaft von der Natur wird uns eine höhe-
re Klarheit und eine viel grimmigere Käl-
te sein, als wir uns vorstellen können.
Wir werden in Zukunft den Eindruck
von einem immer klaren und immer kal-
ten Tag haben.“ Nichts Neues unter der
Mitternachtssonne? Schön wär’s.
Der Autor erhielt für seinen Roman „Hysteria“
den Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg.
Im Literaturhaus Frankfurt legt er während der
Buchmesse am 19. 10. um 23 Uhr als DJ auf.
Für die TascheWo beginnt eigentlich
der Norden? „Wo der Süden aufhört“,
schreibt Bernd Brunner in „Die Erfin-
dung des Nordens“. Und das ist pro-
grammatisch für dieses lesenswerte
Buch, das sich der Himmelsrichtung
kulturwissenschaftlich nähert. Norden
ist also mehr eine Frage des Standpunk-
tes, und die Grenze zwischen Süd und
Nord hat sich mit jedem Abenteurer,
Forscher, Autor und Künstler über die
Jahrhunderte verschoben. Und das tut
sie noch immer. asl
Bernd Brunner: „Die Erfindung des Nordens – Kultur-
geschichte einer Himmelsrichtung“. Galiani Berlin,
320 Seiten, 24 Euro
Für die TascheEines Nachts träumte
Erika Fatland, dass sie über eine große
Landkarte wandere. Sie streifte von
Land zu Land, immer entlang der Gren-
ze zu Russland, von Nordkorea bis zu-
rück in ihre Heimat Norwegen. So ent-
stand die Idee zu einem Buch, für das
die Autorin 20 000 Kilometer durch 14
Staaten reiste. Sie wollte herausfinden,
wie Russland seine Nachbarländer histo-
risch beeinflusst hat und bis heute
prägt. „Die Grenze“ ist ein Buch über
die Nachbarn, und indirekt eines über
Russland und über den Norden. Fatland
spricht acht Sprachen und kommt mit
den Menschen ins Gespräch. In der in-
ternational nicht anerkannten Volksrepu-
blik Donezk trifft sie Wladimir, einen
Geschichtsprofessor, der sich, als der
Krieg ausbrach, zum Panzerkomman-
danten umschulen ließ. Auch in
Georgien ist die Grenze weiterhin in Be-
wegung. Russische Soldaten bauten
über Nacht einen Stacheldrahtzaun um
Dato Vanischwilis Haus, seitdem ist er
in der abtrünnigen Republik Südosse-
tien eingeschlossen. Fatland interviewt
ihn durch den Zaun, der von georgi-
schen Soldaten bewacht wird, da die
Russen in der Gegend patrouillieren
und manchmal zu nah kommende Perso-
nen verhaften. Die 35-Jährige reist in chi-
nesischen Hochgeschwindigkeitszügen,
in äußerst langsamen kasachischen Zü-
gen, und in der Mongolei reitet sie auf
Rentieren. Die vierwöchige Fahrt durch
die Nordostpassage erlebt sie auf einem
alten sowjetischen Forschungsschiff,
während der rund 10 000 Kilometer lan-
gen Strecke entdeckt sie neben Eisbären
und Eisschollen an den Stränden auch
Tausende rostende Ölfässer. Und nach
259 Tagen endet ihre Tour im Norden ih-
rer Heimat: in Nordnorwegen. ageh
Erika Fatland: „Die Grenze“. Übersetzt von Ulrich
Sonnenberg. Suhrkamp, 623 Seiten, 20 Euro
FORTSETZUNG VON SEITE 45
Zum Teil wurden die Recherchereisen für diese Ausgabe von
Veranstaltern, Hotels, Fluglinien oder Fremdenverkehrsämtern
unterstützt. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Texte.
MHINWEIS DER REDAKTION
Nach Norden
Nördlichstes „Full-Service“-Hotel
Das „Radisson Polar Blu“ auf Spitzber-
gen hat seit Februar 2019 wieder geöff-
net, mit dem Asian-Fusion-Restaurant
„Nansen“. Dort gibt es Soja-Kabeljau
und Pfannkuchen mit Moltebeeren als
Nachtisch. Highlight: das Thermometer
vor dem Fenster mit ungeahnten Minus-
graden, Blick über den Adventsfjord auf
die baumlosen Schneespitzen gegenüber;
ab 150 Euro/Nacht, radissonhotels.com
Nördlichste Champagner-Verkostung
Mit über 70 Sorten und 300 Bordeaux-
Lagen und insgesamt 15 000 Flaschen
Wein ist der Keller der „Funken Lod-
ge“ „The Old Nordpolet“ auf Spitzber-
gen bestückt. Im „Funktionærmessen
Restaurant“ gibt es „Svalbard Ren“, ark-
tischen Saibling und Finnmark King
Crab. Highlight: ein Great Northern an
der Bar mit Kaminfeuer, Bollinger in
der Minibar auf dem Zimmer und Kaf-
fee in Mini-Bodum-Glaskannen zum
Ausnüchtern beim Frühstück
Nördlichster Burger-Grill„Coal
Miners’ Cabins“, in den rustikal-nordi-
schen Arbeiterkojen kann man übernach-
ten (Flurbad). Highlight: lebensgroßer
Eisbär-Teddy am Tresen, Vintage-Tele-
fonzelle, CMC-Burger mit karamellisier-
ten Zwiebeln und Ofenkartoffel
Nördlichster ZivilflughafenVom
Svalbard lufthavn Longyearbyen (LYR)
sind es 1309 Kilometer zum Nordpol.
Highlight: die roten Düsen der SAS-
Boeing 737 mit wohlklingenden Namen
wie „Hans Viking“
Nördlichster Bildband„The Cold Is
the New Hot“, über die coolen Be-
wohner von Longyearbyen. Highlight:
Covergirl Lene Dyngeland aus Bergen,
seit drei Jahren auf Spitzbergen
Nördlichste BrauereiSvalbard
Bryggeri. Highlight: das frischwürzige
Spitzbergen-Pilsener
Nördlichster NachtklubHuset. Ein-
tritt ab 20 Jahren, mit Ausweispflicht.
Highlight: The Beatles „White Album“
W
ie ein gigantisches Tier
mit dampfendem Rüssel
erhebt sich dieser unge-
wöhnliche Bau nördlich der
Kopenhagener Innenstadt. In seinem
Bauch befindet sich die städtische Müll-
verbrennungsanlage mit integriertem
Wärmekraftwerk. Und auf seinem Rü-
cken? Drei Skipisten für Anfänger und
Fortgeschrittene, insgesamt 450 Meter
lang. Architekt des Tieres ist der Däne
Bjarke Ingels, er ist für Überraschun-
gen und Größenwahn bekannt. Dieses
Mal kombiniert er spielerisch Nutzun-
gen miteinander, die sich bisher ausge-
schlossen haben: Müllentsorgung und
Erholung. Spaß und Nachhaltigkeit.
Architekturführer brauchen in Kopen-
hagen im Grunde alle zwei Jahre ein Up-
date. Nach dem 2018 eröffneten Ausstel-
lungshybrid Blox von OMA, dem neuen
Noma von BIG und dem hauseigenen
Café des Architekturstudios Cobe im
umstrukturierten Nordhafen gibt es
2019 einen ganz besonderen Neuzu-
gang. Copenhill heißt diese weltweit ein-
zigartige Attraktion, mit der Touristen
und Einheimische, Architekturfans und
Wintersportler auf die Insel Amager ge-
lockt werden sollen. Anders als beim al-
pinen Ski ist die Anreise nicht beschwer-
lich. Copenhill liegt nämlich nur zehn
Fahrradminuten vom Freistaat Christia-
nia entfernt, mit dem Auto vom Haupt-
bahnhof sind es gerade mal 15 Minuten.
„Schneller konnten wir Dänen noch nie
auf der Piste stehen“, freut sich Christi-
an Ingels. Seine Augen strahlen. Der
CEO dieses kuriosen Projekts ist auf
Skiern groß geworden und ein wahrer
Wintersportfan. „Copenhill ist von Ski-
fahrern für Skifahrer“, betont er.
An einem Herbsttag in Kopenhagen
werden letzte Handgriffe angelegt. Ver-
gangenen Freitag hat die Skipiste der
Amager Bakke offiziell eröffnet. Der
Wind weht hart, Sonne bricht durch die
Wolken. Eine kleine Gruppe trägt bunt
leuchtende Winterkleidung und Skier
auf den Schultern. Ihre Schritte schwin-
gen etwas, denn Skischuhe zwingen im-
mer zu einem recht merkwürdigen
Gang. Sie sollen die Pisten auf dem
Dach der neuen Müllverbrennungsanla-
ge testen. Nicht auf Schnee, sondern auf
einer Kunststoffrasenstruktur, Wiese
und Silikon, bei einer Neigung von 14
bis 45 Grad. Weil es den Machern um
eine „hedonistische Nachhaltigkeit“
geht, haben sie sich bewusst gegen
Schneekanonen entschieden. Skier mit
Silikon anstelle von Wachs zu behan-
deln, erscheint allerdings zunächst selt-
sam. „Man gewöhnt sich aber schnell
daran“, erklärt Tobias, ein Snowboarder,
der die Piste schon oft gefahren ist. Irri-
tierend sei eher, dass man keine weiße
Oberfläche sehe, sondern eine grüne.
Sonst sei es wie auf einer harten Piste,
es fahre sich gut, bei Regen sogar noch
besser. Und rasant. Die Abfahrt dauert
keine 30 Sekunden. Es gibt einen Free-
style-Park, einen Slalomkurs, einen Kin-
der- und Anfängerbereich und eine Ski-
schule mit Shop. Nach oben führen ein
Tellerlift und Zauberteppiche, alles ganz
so, wie man es aus den alpinen Skigebie-
ten kennt.
Was man aus Ski-Gebieten eher
nicht kennt, ist die Aussicht aufs Meer
und auf Schornsteine. Aus den Schloten
der Anlage quillt sauberer Wasser-
dampf. Wenn der Wind richtig steht,
verschwinden die Skifahrer in fluffigen,
weißen Wolken. Der größte Schorn-
stein, oder vielmehr der Dampf, der aus
ihm quillt, ist Teil eines Kunstprojektes
des Berliner Studios realities:united. Ei-
nes Tages soll der Dampf in Form eines
Rings in den Himmel steigen, sozusa-
gen als i-Tüpfelchen. Noch steht dafür
die Finanzierung nicht.
Bis zu 1500 Menschen finden auf dem
luftig gelegenen Gelände Platz, 150 Ski-
fahrer sind bisher gleichzeitig auf den
Pisten zugelassen. Seinen Skipass muss
man zuvor online buchen. Equipment
kann selbst mitgebracht oder vor Ort
ausgeliehen werden. Weil das Konzept
den Urban Mountain als einen öffentli-
chen Park interpretiert, ist der Zutritt
auf die Dachlandschaft kostenlos.
Durch die darin eingefassten Picknick-
plätze am Hang lohnt sich Copenhill be-
sonders für Familienausflüge.
Ist man oben angekommen, wartet
ein Ausblick über ein altes Hafenareal,
aufs Meer und bis nach Schweden –
man begreift die Logik der doppelten
Nutzung. Der innerstädtische, künstli-
che Berg mit seiner, aus der Ferne be-
trachtet, kettenhemdartigen Fassade aus
Stahlblechelementen, dient damit nicht
als Versteck einer eher unangenehmen
Sache, im Gegenteil. Es soll ein neues
Bewusstsein für den Umgang mit Müll
geschaffen werden: Wer weiß schon ge-
nau, was mit all dem passiert, was wir
im Alltag achtlos wegwerfen? Mit
Copenhill soll sich das ändern, weil Ko-
penhagener und Besucher dem Müll
hier wieder begegnen. Amager Bakke ist
ein Kraftwerk und ein Ort für Sport
und Erholung. Der Berg überlagert die
Fabrik – was hier Form und was Funkti-
on ist, lässt sich kaum mehr trennen. Er
hat das Potential, das neue Wahrzeichen
von Kopenhagen zu werden. Wie ein
Start-up-Entrepreneur betrachtet Chris-
tian Ingels die Sache optimistisch: Über
Nachahmer würde er sich freuen.
STEPHAN BURKOFF/
JEANETTE KUNSMANN
Anreise Vom Hauptbahnhof in Kopenhagen sind es nur
15 Fahrminuten bis zum Copenhill (Vindmøllevej 6).
SkifahrenDer Eintritt kostet 20 Euro pro Stunde;
330 Euro pro Saison.
Ticket online buchen unter: copenhill.dk
NEUE REISEBÜCHER
Schnee war gestern: Auf dem Copenhill
wird auf Silikon gefahren. Foto Copenhill
Die nördlichste Champagner-Verkostung gibt es in der Bar der „Funken Lodge“, den
nördlichsten Burger bei „Coal Miners’ Cabins“ auf Spitzbergen.Fotos Nickel
DIE NÖRDLICHSTEN
An einer Grenze zur Russland liegen die Überreste der Sowjetunion Foto Suhrkamp
Dänemarks grüne Skipiste
Auf dem „Copenhill“ in Kopenhagen hat die Wintersportsaison begonnen. Auf Silikon
Sosieht Dänemarks neue Skipiste aus: Sie führt über das schräge Dach der Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen. Foto Christoffer Regild
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