Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
Das Szenario bietet zwei klassische Mög-
lichkeiten: Tragödie oder Komödie. Vier
Frauen warten auf einer Insel auf ihre Män-
ner. Diese, vier Brüder aus einer Industriel-
lenfamilie, hatten nämlich die grandiose
Idee, in familiärer Harmonie gemeinsam
Urlaub zu machen. „Da sitzt man da und
die Fassade blättert“ – so bilanzieren die
Ladys das Ganze vorab. Bevor es richtig los-
geht mit „Passion – Sehnsucht der Frau-
en“. Illusionen sind wohl was für Männer.
Schauspieldirektorin Anna Bergmann
verweigert das Entweder-Oder und eröff-
net die Spielzeit am Badischen Staatsthea-
ter Karlsruhe mit einer Collage, die von
Boulevardkomik über kühles Erzählthea-
ter bis zum Psychothriller alles kann – und
sie erhöht auf sieben Frauen. Diese nutzen
die Abwesenheit der Männer und die Anwe-
senheit großer Mengen an Sekt, um Tache-
les zu reden: über Machtspiele, Scham,
Lust und die Frage, wohin die Liebe eigent-
lich geht, wenn sie flöten geht.
Nach ihren Filmadaptionen „Szenen ei-
ner Ehe“ und „Persona“ verschneidet Berg-
mann diesmal gleich drei weitere Werke
des schwedischen Existenzialfilmers (und
Namensvetters) Ingmar Bergman mitein-
ander. Die Leichtigkeit der Komödie „Sehn-
sucht der Frauen“ trifft auf die Selbstzer-
fleischung aus „Passion“ und die psychoti-
schen Realitätsverschiebungen aus „Wie

in einem Spiegel“. Dadurch holt sie intime
Konflikte, die in den Filmen aus der Isolati-
on entstehen, auf der Bühne in eine sehr
spezielle, gnadenlose Öffentlichkeit – in
die der Familie. Erleichtert wird dies durch
zwei wunderbare menschliche Eigenschaf-
ten: Ignoranz und Egozentrik. Jeder kreist
hier so hingebungsvoll um sich selbst, dass
die Geständnisse, Affären und Ausraster
der anderen kurz als „Megastory“ gewür-
digt und nach einem weiteren Drink souve-
rän beiseite geschoben werden. Für das In-
selfeeling dieser versoffenen Sommer-
nacht sorgt Bühnenbildner Volker Hinter-
meier. Er platziert ein Leuchtturm-Stahl-
skelett auf mehreren Holzstegen, verteilt
an den Rändern riesige flache, graue Kie-
selsteine und flutet den Bühnenraum mit
einigen symbolischen Zentimetern Was-
ser, die zum Plantschen einladen.

Bis zur Ankunft der Männer, die ihre Ver-
spätung mit einer peinlichen A-capella-
Version von Cyndi Laupers „Girls Just
Want To Have Fun“ zu überspielen versu-
chen, erzählen die Frauen: Dabei überset-
zen Bergmann und ihre Dramaturgin Anna

Haas zum Beispiel Martas Erinnerungen
an ihre irre Verknalltheit in den selbstge-
rechten Künstler Martin in eine kitschig
bunte, getanzte Lovestory zwischen Lean-
der Senghas und Bea Brocks. Auch dass es
in der Beziehung zwischen Anna (Sina
Kießling) und Andreas (Thomas Schuma-
cher) aus „Passion“ an Spielraum fehlt, er-
zählen sie bereits durch die Form: In dieser
Episode bewegen alle Beteiligten ihre Lip-

pen synchron zu Tonaufnahmen aus dem
Off. Fremdbestimmt agieren sie Rollen
aus, die sie nicht erfüllen können und wol-
len.
Die stärkste und bedrückendste Ge-
schichte spielt nach der Ankunft der Män-
ner, nach der Willkommensparty, in den
letzten Zügen des Rausches. Rakel kämpft
mit einer schweren Psychose. Mutter, Ehe-
mann und Schwester sind mit ihrem Drif-
ten zwischen der realen und einer nur für
sie sichtbaren religiös-endzeitlichen Welt
komplett überfordert. Sarah Sandeh gibt
dieser jungen Frau in ihren wachen, dies-
seitigen Momenten eine so ungeheuer lie-
benswerte, zupackende Fröhlichkeit, dass
klar wird: Sie klammert sich mit aller Kraft
an diese Welt, wie sie vor ihrer Psychose
war, versucht alles, um zu bleiben, sogar ei-
ne wilde kleine, wassertriefende Affäre
mit ihrem Heiopei-Schwager Martin. Um-
so bitterer ist es, sie endgültig aufgeben zu
sehen.
Nach knapp drei Stunden verlässt man
das Theater mit einem Gefühl wie nach ei-
nem Binge-Watching-Serienmarathon: Es
ist einfach etwas viel, vielleicht zu viel der
menschlichen Abgründe für einen Abend
gewesen. Man hätte vernünftig sein kön-
nen und eine Episode früher abschalten –
dagegen spricht aber schlicht der Suchtfak-
tor. cornelia fiedler

von andrian kreye

M


an muss das Klischee vom Schlag-
zeuger als Naturgewalt beim am
Sonntag verstorbenen Ginger Ba-
ker ganz buchstäblich verstehen. Mit einer
Betonung auf Gewalt. Es gab kaum einen
Musiker, der zorniger und handgreiflicher
werden konnte, als der 1,93 Meter große,
rothaarige Engländer, der mit der Band
CreamMusikgeschichte schrieb, weil sie
der Welt mit ihren haushohen Verstärker-
türmen und extremen Lautstärken den
Weg zum Hardrock ebnete. Was umso
wuchtiger wirkte, weil Ginger Baker am
Schlagzeug das Kunststück fertigbrachte,
seine virtuose Jazztechnik mit seiner un-
geheuren Aggressivität im Bluesrock des
Trios zu bündeln.
Vielleicht half es ja der Wucht, dass die
Musik von Cream ihm selbst fast so auf die
Nerven ging wie seine beiden Mitmusiker.
Jack Bruce konnte er schon seit Jahren
nicht leiden, aus der Zeit, als sie Anfang der
Sechzigerjahre noch gemeinsam in Alexis
KornersBlues Incorporatedspielten. Und
seine Abneigung war so groß, dass er bei
einem Konzert mal über seine Trommeln
sprang und den Bassisten so vermöbelte,
dass gleich mehrere Bühnenarbeiter dazwi-
schen gehen mussten.

Aber wenn er Bruce wenigstens noch
hasste, so hatte er für den Gitarristen Eric
Clapton nur Verachtung übrig. Ein Weichei
sei das gewesen, ein mittelmäßiger Blues-
klampfer, der seine Weltkarriere ja nur
seiner, also Bakers Band Cream verdankte.
Clapton habe oft weinen müssen, wenn
sich Baker und Bruce im Tourbus mal
wieder in die Haare kriegten. Und, ach ja:
„Hardrock ist das letzte. Ein Scheißlärm.“
Das sagte er mal bei einem Treffen bei sich
zu Hause in der kalifornischen Wüste, als
seine große Zeit als Rockstar bei Cream,
Blind Faithund derBaker Gurvitz Army,
als Musikpionier in Afrika und Schlagzeug-
gott für mindestens drei Generationen
Musiker eigentlich schon vorbei war.
Man spürte diesen Zorn immer noch,
mit dem er sich immer wieder im Wege
stand, und den er lange mit dem giftigsten
Gift der Rockgeschichte betäubt hatte.
Denn das Schlüsselerlebnis seines Lebens
war ja weder die Gründung von Cream,
noch irgendeine der Bluesplatten, die bei
seinen Zeitgenossen solch seelentiefe Be-
ben ausgelöst hatten. Bei Charlie Watts
zum Beispiel (den er bei Korner ablöste –
„kein besonderer Schlagzeuger“) oder
Mick Jagger („ein Bürschchen, ein musika-
lischer Depp“), die dann dieRolling Stones
gründeten.
Nein, die entscheidende Nacht war, als
sein Held, der legendäre Jazzdrummer
Phil Seamen, 1960 in einen der Jazzclubs
kam und ihm sagte, er sei einer der weni-
gen, die wirklich verstanden hätten, was
Rhythmus bedeutet. Seamen zeigte dem
damals Zwanzigjährigen, wie man Heroin
injiziert. Und er spielte ihm afrikanische
Schallplatten vor. Beides sollte ihn lange
nicht loslassen. Das Heroin bis in die frü-
hen Achtzigerjahre. Afrika nie wieder.
Und so erzählte er auch in der kaliforni-
schen Wüste sehr viel lieber von seiner Zeit
in Nigeria, als von seiner Meilensteinband
Cream, mit der er so immerwährende
Songs einspielte wie „Sunshine of Your
Love“, „White Room“ oder „I Feel Free“
(„Vollkommen unausgereifte Musik. Und
diese sinnlosen Lautstärken. Ich hatte per-
manent ein Klingeln in den Ohren“). Nein,
seine persönlich größte Zeit waren die fünf
Jahre nach 1970, als er sich aus einer Laune
und der Leidenschaft zur afrikanischen
Musik heraus in Nigeria niederließ.
Der Saxofonist und Sänger Fela Kuti
öffnete ihm dort die Türen zur Musik, zum
Leben und zur Macht in Lagos. Der hatte in

London studiert. Man kannte sich. Und mit
ihm nahm er auch die vielleicht beste Plat-
te seines Lebens auf, eine Live-Aufnahme
aus dem Jahr 1971, auf der Baker mit der
vierzehnköpfigen BandAfrica ’70seines
Freundes spielte. Ein Monster von Platte,
auf der Kuti Band und Menge mit seiner
aggressiven Stimme anheizte und Bakers
Schlagzeug unter den Polyrhythmen der
Perkussionisten, Gitarristen und Bläser
explodierte.
Ginger Baker war Pionier damals. Er
gründete mit einem anderen ehemaligen
Exilstudenten aus London, dem Schlag-
zeuger Remi Kabaka, das erste Mehrspur-
studio auf dem afrikanischen Kontinent.
Irre Geschichten erzählte er aus dieser
Zeit. Wie sein Ex-Rockstar-Kollege Paul
McCartney mit seiner BandWingsnach
Lagos kam, weil es unfassbar hip war, dort
aufzunehmen.
Es war für Ausländer gar nicht so ein-
fach gewesen, einzureisen. Aber Bakers
Partner Kabaka hatte Verwandte und
Beziehungen in der Armee und der Regie-
rung. So verschafften sie dem Ex-Beatle
Visa, drei Häuser mit zwölf Hausangestell-
ten, zwei Range Rover, alles umsonst. Aller-
dings hatte die Plattenfirma EMI da schon
das Geschäft auf dem Kontinent gewittert
und ein Konkurrenzstudio aufgemacht.

Und weil McCartney damals dort unter
Vertrag war, musste er gleich schon am
zweiten Tag umziehen. „Blöd wie ich bin,
fahr’ ich auch noch das ganze Zeug rüber“,
erinnerte sich Baker. „Mein Partner ist aus-
gerastet.“ Am nächsten Tag ein Anruf bei
Baker. Ob er McCartney retten könne? Ka-
baka hatte mit der Garde des Präsidenten
das Studio besetzt und die Aufnahmen mit
aufgepflanzten Bajonetten gestoppt.

Baker holte die Wings da raus. Die buch-
ten zum Dank für die Aufnahmen zu „Band
on the Run“ noch ein paar Studiostunden
bei ihm, die sie nie bezahlten. Und auch der
Rest der afrikanischen Jahre klingt wie ein
Dauerfeuer aus Irrsinn und Abenteuer.
Baker fuhr Rallyes, wurde von der Polizei
aus Lagos in den Busch gejagt. Im Norden
des Landes gründete er eine Transportfir-
ma, die ihm später die Algerier abjagten.
1975 kehrte er nach London zurück, wo er
die Baker Gurvitz Army gründete, auf die
er keinen rechten Bock hatte. Er spielte
Polo, gab sehr viel Geld dafür aus und
wurde schließlich, wie so viele britische

Rockstars seiner Zeit, von der Steuer-
fahndung verfolgt. Erst setzte er sich nach
Italien ab, dann nach Amerika.
Der Rest seines Lebens war eine rastlose
Abfolge von Kapiteln, an die sich kaum
einer erinnert. Auch wenn er Rockgeschich-
te geschrieben hatte, sah er sich doch
eigentlich immer als Jazzdrummer. Doch
er spielte dann noch mitHawkwind, Ato-
mic RoosterundJohnny Lydons PIL.
Mit dem damaligen Superproduzenten
Bill Laswell nahm er Platten auf, bei denen
er einfach Schlagzeugspuren ablieferte,
die Laswell dann mit Instrumenten von
Musikern ergänzte, die Baker nie zu
Gesicht bekam. Er gründete Jazzrock-
gruppen und spielte mit jungen Bands. Er
zog nach Südafrika. 2005 schlossen sich
Cream noch einmal für ein paar Konzerte
in der Londoner Royal Albert Hall und im
New Yorker Madison Square Garden zu-
sammen.
Aber die Spannungen waren immer
noch zu groß, als dass das eine Zukunft
gehabt hätte. 2016 zog sich Baker aus der
Öffentlichkeit zurück. Das wilde Leben hat-
te ihn eingeholt. Herz und Lunge machten
ihm das Leben zur Hölle und das Trom-
meln unmöglich. Am 6. Oktober ist Ginger
Baker im Vereinigten Königreich gestor-
ben. Er wurde 80 Jahre alt.

Musik ist die Zeitkunst schlechthin. Sie
lebtvom Augenblick, dessen Vergänglich-
keit sie einerseits schmerzlich bewusst
macht, den sie anderseits aber der metri-
schen Zeit enthebt und damit im Idealfall
zur kleinen Ewigkeit macht. „Mystère de
l’instant“, „Geheimnis des Augenblicks“
hat der französische Komponist Henri Du-
tilleux ein Stück genannt, mit dem der Diri-
gent Daniele Gatti und das Symphonieor-
chester des Bayerischen Rundfunks nun
ihr Programm im Münchner Herkulessaal
eröffneten.
Inspiriert von einem Erlebnis vorüber-
ziehender Vögel in der Natur, besteht das
gut viertelstündige Werk aus einer Reihe
von zehn ganz unterschiedlichen Sequen-
zen, Augenblicken gleichsam, in denen die
reine Streicherbesetzung, unterstützt von
dem in der Kunstmusik ungewöhnlichen
Zymbal, dem osteuropäischen Hackbrett,
geheimnisvolle, auch spirituelle Räume zu
öffnen scheint. Dass am Ende im Ohr des
Hörers doch ein schlüssiger Zusammen-
hang entsteht, zeugt vom Handwerk, aber
auch der inneren Freiheit des 2013 gestor-
benen Komponisten, der in seinem knapp
einhundertjährigen Leben nie viel, aber da-
für stets Schlüssiges schrieb. Es zeugt aber
auch von der Kunst Daniele Gattis, der je-
den dieser Augenblicke genau zeichnet, al-
so immer aus dem Moment heraus agiert,
ohne dabei das Ganze aus dem Blick zu ver-
lieren.
Der italienische Dirigent war vor einem
guten Jahr ins Fahrwasser der MeToo-De-
batte geraten, als ihm das Amsterdamer
Concertgebouw-Orchester wegen „unan-
gemessenen Verhaltens“ fristlos den Ver-
trag als Chefdirigent kündigte. Was genau
vorgefallen ist, weiß bis heute niemand,
weil man sich vor einigen Monaten in wech-
selseitigem Stillschweigen geeinigt hat.
Gleichwohl brachte die Angelegenheit
dem zuvor bei den großen internationalen
Orchestern sehr gefragten Dirigenten ei-
nen deutlichen Karriereknick ein. Seitdem
arbeitet er vorwiegend in seinem Heimat-
land, wo ihn die Oper Rom als Musikali-
schen Direktor verpflichtete und er mit
„LaFil – Filarmonica di Milano“ in diesem
Jahr ein eigenes Orchester gegründet hat.
Die BR-Symphoniker gehören momentan
zu den wenigen nicht-italienischen Orches-
tern, die an der regelmäßigen Zusammen-
arbeit festhalten.
Schließlich passen sie in ihren musikali-
schen Idealen bestens zusammen: Der
transparente, stets wendige Klang dieses
Orchesters kommt Gattis Streben nach ei-
nem leichten, poetischen Musizieren ent-
gegen, das Musik aus dem Moment entste-
hen lassen will. Man kann es auch in Camil-
le Saint-Saëns’ Erstem Cellokonzert hö-
ren, das ein formales Experiment ist, beste-
hend nur aus einem Sonatenhauptsatz,
der von einem Menuett unterbrochen
wird. Das verlangt nach einer flexiblen Zeit-
gestaltung, die Gatti gemeinsam mit dem
jungen Cellisten Pablo Ferrández deutlich

stärker und damit spannender ausreizt als
üblich. Das Tempo scheint sich beständig
zu dehnen, dann wieder zusammenzu-
schnurren in einer Lesart, die risikofreu-
dig daherkommt, aber aus sehr genauer
Probenarbeit hervorgegangen sein muss,
weil Dirigent und Solist dabei ganz ohne
das bei Solokonzerten häufig zu erlebende
Machtgerangel auskommen. Der 28-jähri-
ge Ferrández nutzt sein Debüt bei den BR-
Symphonikern nicht für einen auftrump-
fenden Virtuosenauftritt, sondern fügt
sich mit schlankem, oft zurückgenomme-
nem, dabei immer sonorem und von ei-
nem feinen Vibrato belebten Ton in den Or-
chesterklang ein, was das symphonische
Moment des Konzerts unterstreicht. Saint-
Saëns’ Musik verliert darüber jedenfalls
vollständig die ihr nachgesagte klassizisti-
sche Starre, lebt vielmehr ganz von der Poe-
sie des Augenblicks, die Gatti in einer Mi-
schung aus Leidenschaft und Understate-
ment hervorkitzelt, vom Moment her emp-
funden und dabei doch mit leichthändi-
gem Zugriff auf das formale Ganze.
Man wäre nach der ersten Hälfte also
glatt geneigt, das Stichwort von der ty-
pisch französischen Eleganz zu bringen,
wenn Gatti und die BR-Symphoniker sich
auf diese Weise nach der Pause nicht auch
einen eigenen Zugang zur Musik Dmitrij
Schostakowitschs erschlössen. Bei dessen
vielgespielter Fünfter Symphonie bleibt
stets umstritten, wie ironisch und damit re-
gimekritisch gerade der vorgeblich heitere
zweite Satz und der schmetternde Final-
satz gemeint sind.
Einerseits reetablierte sich Schostako-
witsch mit dem Werk im Jahr 1937 offiziell
als systemtreuer Komponist der Sowjetuni-
on, andererseits bestand er später darauf,
gerade dem Schlussjubel das Erzwungene
einkomponiert zu haben. Daniele Gatti fin-
det darauf seine eigene Antwort, nicht in-
dem er die Ironie offen ausspielt, sondern
indem er alles Heitere und Schmetternde
mit einer brutalen Härte erledigt, gleich-
sam hinter sich bringt. Mitleidlos laut, stäh-
lern unfrei klingen diese Passagen, um in
den leisen erneut einer flexiblen, von den
Orchestersolisten genau durchartikulier-
ten Zeitgestaltung Platz zu machen.
Biegsam hält Gatti zumal das Tempo im
langsamen dritten Satz, der nicht wie oft
starr klagend, auch nicht als pathetische
Anklage daherkommt. Er belebt ihn intim,
fast vorsichtig, als dürfe Schostakowitsch
sich hier, wenn auch nur leise ausspre-
chen, in der Freiheit des gelebten Augen-
blicks. michael stallknecht

Geständnisse, Affären, Ausraster – und
noch einen Drink, bitte. FOTO: F. GRÜNSCHLOSS

Wie nach einem Serienmarathon


Ingmar Bergmans „Sehnsucht der Frauen“ als versoffene Sommernacht am Badischen Staatstheater


Eine Frau kommt nach Hongkong, Jane
Hoyt, sie sucht ihren Mann, der fuhr,
ein Weltklassefotograf und irgendwie
naiv, nach China und wurde dort als
Spion eingesperrt.„Treffpunkt Hong-
kong/Soldier of Fortune“von 1955,
Regie Edward Dmytryk, der einst zu
den Hollywood Ten gehörte. Für die
Befreiung braucht Jane Hilfe, am bes-
ten die von Hank Lee, der die US-Armee
verließ und nun mit allerlei Geschäften
und einer Schmuggeldschunke die
Stadt im Griff hat. Er mag sich, sagt
Jane, selbst als einen Glücksritter se-
hen, für sie sei er ein Gangster. Susan
Hayward ist Jane, Clark Gable ist Hank,
und es ist umgibt ihn immer noch die
feudale Aura des Südstaatlers. Die zwei
verlieben sich, er erhofft Erlösung von
ihr aus seiner Einsamkeit. Ein früher
Cinemascopefilm, das neue breite For-
mat schafft Platz, so dass von überall
her Geschichten in den Film dringen
und Geschichte. Hollywood liebt die
Emigranten, Gestrandeten, Heimatlo-
sen, die Kolonie ist ein Transitraum. Er
zitierte gern Poesie,
sagt ein robuster Knei-
penwirt von einem
alten Ex-General, und
lächelte, als hätte er
einen Witz parat, den
er niemandem erzäh-
len würde. (Koch Me-
dia/explosive media)


Auf dem Weg zum neuen China, auch
dort müssen die Dinge sich ändern,
damit alles beim Alten bleiben kann:
„Asche ist reines Weiß“, von Jia Zhang-
ke. Das Mädchen Qiao und der junge
Bin sind ein Paar, er leitet den kleinen
Gangstertrupp seines Städtchens. Aber
eine neue Schwarmaggressivität greift
die alte Ordnung an, Qiao kann sie noch
mal abschrecken durch einen Schuss in
die Luft, aber sie muss ins Gefängnis,
wegen unerlaubten Waffenbesitzes.
Nach fünf Jahren, als sie rauskommt, ist
die alte Welt untergegangen, dem gewal-
tigen Dammprojekt der Drei Schluch-
ten müssen Häuser und Dörfer wei-
chen. Eine Chronik vom Vergehen der
Zeit, die ohne Aura des Epischen aus-
kommt. (Neue Visionen/good!movies)


Frankreich kämpft: In Dschibuti, der
letzten seiner Kolonien, wird ein Schul-
bus von Terroristen entführt, die für die
Freiheit ihres Landes agieren. Knapp
vor der Grenze zu Somalia wird der Bus
gestoppt: „L’Intervention“, von Fred
Grivois, bei uns mit dem Titel„15 Minu-
tes of War“versehen. Die Politik ver-
handelt, die Fremdenlegionäre warten
auf Befehle, ein kleines Team versierter
Schützen bringt sich in Position. Die
Hitze und die Unschlüssigkeit setzen
allen zu. Der Plan der Snipers ist ausge-
tüftelt wie ein Kino-Spezialeffekt: fünf
gleichzeitig abgefeuerte Schüsse wie
einen einzigen erscheinen zu lassen.
(Al!ve) Frankreich kämpft, September
1918, an der bulgarischen Grenze. Der
Schützengraben ist nur ein Durchgangs-
raum für Conan und seine Kämpfer, sie
rutschen rein, und nach wenigen Minu-
ten ziehen sie schon wieder los, um den
Schutz der Nacht auszunutzen für einen
weiteren Coup. Philippe Torreton von
der Comédie-Française ist„Conan“im
Film von Bertrand Tavernier. Der Film
ist ganz nüchtern und lakonisch in aller
Breite und Gelassenheit. Ich bin kein
Soldat, erklärt der wilde Conan, son-
dern ein Krieger, und Taverniers Film
erzählt davon, was mit
den Soldaten sein soll,
wenn der Krieg vorbei
ist. Wenn sie im Regen
stehen gelassen wer-
den und die Schlachtfel-
der noch mal beleben
müssen mit ihren Erin-
nerungen. (Pidax)


Amerika kämpft, 1945, auf einer Insel
im Pazifik,„Between Heaven and
Hell/Feuertaufe“, 1956, von Richard
Fleischer. Der junge Robert Wagner
wird strafversetzt in einen fiesen Außen-
posten, wo Broderick Crawford als Ma-
jor herrscht, der wie eine Vorahnung
wirkt zu den durchgeknallten Militärs
in „Apocalypse Now“. Wagner erfährt,
was Solidarität ist, immer näher kommt
er dem Herz der Finsternis dieses Krie-
ges. Selten war der Horror der Kämpfe
so dicht wie in diesem Antikriegsfilm,
schrieb Bertrand Tavernier, aber viel-
leicht sei er gar nicht so anti Krieg ...
(Koch Media/explosive Media)


Noch einmal das Herz einer Finsternis,
die HBO-Sky-Miniserie„Chernobyl“.
Der Reaktorunfall 1986, dokumentiert
auf sechs Kassetten, die einer der Betei-
ligten besprochen hat, danach hängt er
sich auf. Die Explosion, die Verwüstung,
der Heroismus der Männer, die auf
verstrahltes Terrain geschickt wurden,
die Evakuierung der Stadt Prypjat, die
Niedertracht der Funktionäre, die den
Schaden gering halten wollten für das
Ansehen der Sowjetunion. Mit Stellan
Skarsgård und Jared Harris, Buch Craig
Mazin, Regie Johan Renck. Ein Oratori-
um des Schreckens, Beschwörung abso-
luter Klaustrophobie, alles soll einge-
dämmt, zubetoniert, vertuscht werden.
Besonders klaustrophobisch: das mono-
tone Tapetenmuster im Zimmer, wo der
Mitwisser zum Schwei-
gen gebracht wird. Die
Musik ist von Hildur
Guðnadóttir, die auch
für den allseits erwarte-
ten „Joker“ den Sound-
track komponiert hat.
(Polyband)
fritz göttler


Irre Geschichten


Ginger Baker war einer der prägendsten Schlagzeuger der Welt, mit seiner Band „Cream“


revolutionierte er den Rock. Jetzt ist er im Alter von 80 Jahren gestorben


Komaglotzen ist nichts
dagegen:Es gibt all zu viele
menschliche Abgründe

Musik aus


dem Moment


Die BR-Symphoniker eröffnen
ihre Saison mit Daniele Gatti

Er gründete eine Firma,
verlor sie wieder, spielte Polo,
hatte Steuerschulden

Die zwei Dinge, von denen
er nie wirklich loskam,
waren Heroin und Afrika

Alles Heitere bei Schostakowitsch
erledigt dieser Dirigent
mitleidlos mit brutaler Härte

(^12) FEUILLETON Montag, 7. Oktober 2019, Nr. 231 DEFGH
Als Drummer bündelte Ginger Baker eine virtuose Jazztechnik mit einer ungeheuren Aggressivität. FOTO: HULTON ARCHIVE/GETTY
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