Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
AUSLAND

Fotos:


Luca Matarazzo/dpa, Giuseppe Lami/EPA-EFE/Shutterstock


FOCUS 39/2019 41

das genaue Gegenteil von Salvini. Nüch-
tern, wo er dauerpolemisiert. Besonnen,
wo er wütend agiert. Als einzige Ministe-
rin der neuen Regierung gehört sie keiner
Partei an. Sie ist eine Technokratin, die
Regierungschef Guiseppe Conte wegen
ihrer 40-jährigen Erfahrung im Innenmi-
nisterium auf die Stelle berief. Während
Salvini ständig über soziale Netzwerke
Wahlkampf betreibt, indem er seine Fol-
lower an Mittagessen, Jogging-Runden
und Urlaub teilhaben lässt, gilt Lamor-
gese als außerst diskret. Ein öffentliches

Social-Media-Profil hat sie nicht, und
in den wenigen Interviews, die sie gab,
blieb sie äußerst wortkarg.
Selbst optisch könnte der Richtungs-
wechsel im Innenministerium kaum deut-
licher sein. Tritt Salvini am liebsten in
T-Shirts der italienischen Ordnungskräfte
auf oder zeigt sich am Strand mit Plauze
in Badehose, ist Lamorgese die Förmlich-
keit in Person: Die Beamtin kombiniert
gedeckte Farben, trägt Business-Blazer
und weiße Blusen.
„Man könnte Lamorgese als Anti-Salvi-
ni bezeichnen“, sagt Emiliana De Blasio,
Politikwissenschaftlerin an der LUISS-
Guido-Carli-Universität
in Rom. Sie sei eine har-
te Arbeiterin, war zuletzt
Chefberaterin der bei-
den Vorgänger Salvinis
und kenne das Ministe-
rium wie keine Zweite.
Außerdem ist sie eine
ausgewiesene Migrati-
onsexpertin: 2017 wur-
de sie zur Präfektin von
Mailand ernannt, also
zur obersten Vertreterin
der Zentralregierung in
der Stadt. Offenbar ein
Glücksgriff, denn die aus dem süditalie-
nischen Potenza stammende Lamorgese
löste das damalige Flüchtlingsproblem
schnell, effektiv und geräuschlos.
Daran erinnert sich auch Alberto Sini-
gallia, 57, seit 25 Jahren Direktor des
Projekts „Arca“, das in Mailand gestran-
deten Flüchtlingen hilft. Unter der Füh-
rung von Roms neuer Statthalterin sei die
Stadtverwaltung mit Migrationsfragen
plötzlich ganz anders umgegangen, sagt
Sinigallia. „Es herrschte eine große Flexi-
bilität und gute Zusammenarbeit mit den
nicht städtischen Einrichtungen.“ Lamor-
gese hob damals umgehend diverse mig-
rantenfeindliche Dekrete von Lega-Bür-
germeistern verschiedener Städte auf, weil
die Aufnahme von Einwanderern „keine
Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Gesundheit“ darstelle, wie sie betonte.

Eine Lösung für Europa
Mit der gleichen pragmatischen Heran-
gehensweise löste die Italienerin auch
den Fall der „Ocean Viking“, die in die-
sem Sommer wochenlang vor der Küste
Maltas und Italiens dümpelte, ohne dass
Bootsflüchtlinge von Bord durften. Im Stil-
len vereinbarte Lamorgese mit Brüssel die
Verteilung von 82 Passagieren auf ver-

schiedene EU-Länder, die sich zur Auf-
nahme bereit erklärt hatten, und erteilte
anschließend die Anlegeerlaubnis.
Erwartungsgemäß wiegelte Salvi-
ni anschließend auf Facebook seine
Anhänger auf: „Mit dieser Regierung
des Verrats sind allein am Samstag
250 Menschen an unseren Küsten ange-
kommen. Ich hoffe, dass sie nicht zum
Zustand von vor zwei Jahren zurückkeh-
ren will – mit offenen Häfen und illegaler
Einwanderung außer Kontrolle. Die Lega
ist bereit zu kämpfen: innerhalb und
außerhalb des Parlaments.“
Typisch Lamorgese, dass sie die Pole-
mik ihres Vorgängers
schlicht missachtete.
Sie machte klar: Ihr
Kampf findet nicht in der
Öffentlichkeit, sondern
in den Institutionen statt.
Damit kann sie dann
auch schon am kommen-
den Montag beginnen.
Da wird sie ihre euro-
päischen Amtskollegen
auf Malta treffen. Zent-
rales Thema ist ein neuer
Verteilmechanismus für
Flüchtlinge. Lamorgese
und ihre Vereinbarung mit dem norwe-
gischen Rettungsschiff „Ocean Viking“
könnte dabei sogar zum Vorbild für den
Umgang mit dem Thema werden. Ein
Zusammenschluss williger EU-Länder
würde sich demnach künftig darauf eini-
gen, in Italien und Malta ankommende
Migranten freiwillig unter sich aufzutei-
len, um so den Druck von Italien zu neh-
men – unter Ausschluss der osteuropäi-
schen Staaten, die sich jedem Kompromiss
in der Flüchtlingsfrage verweigern.
Das ultimative Ziel Italiens wäre es
allerdings, eine Reform des Dublin-Sys-
tems durchzusetzen, also die Regel zu
verlassen, dass Asylbewerber auch in dem
Land einen Antrag stellen müssen, das
sie als erstes betreten. Bis dahin scheint
eine Allianz der willigen Länder und ein
automatischer Verteilmechanismus die
nächstbeste Lösung. Die Chancen dafür
stehen gut, das Wetter spielt Lamorgese in
die Hände. Jetzt im Herbst wagen weni-
ger Menschen die Fahrt über das Mittel-
meer. Die neue Innenministerin hat Zeit
bis zum nächsten Frühjahr, eine Lösung
mit ihren EU-Kollegen auszuhandeln. Bis
die nächste Flüchtlingswelle anrollt. n

VIRGINIA KIRST

Im Senat Italiens Premier
Giuseppe Conte (r.) und seine neue
Innenministerin Luciana Lamorgese

Am Arbeitsplatz
Luciana Lamorgese,
66, noch an ihrem
alten Schreibtisch als
Präfektin von Mailand
Free download pdf