KINO
Fotos: Niko Tavernise/© 2019 Warner Bros. Entertainment Inc.
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in Superhelden-Block-
buster aus Hollywood
gewann den Goldenen
Löwen bei der Biennale
von Venedig, dem ältes-
ten Filmkunstfestival
der Welt. Und das unter
dem Jury-Vorsitz von Lucrecia Martel,
einer argentinischen Arthouse-Regisseu-
rin. Eine große Überraschung war das,
ein Skandal, erst recht, wenn man meint,
dass das Siegerwerk „Joker“ Rache und
Gewalt feiert. So kann man das sehen, so
haben das auch etliche, vor allem ameri-
kanische Kritiker interpretiert.
Dabei wird in dem Film zunächst nur
ein Mann gezeigt, der als Clown arbeitet.
Zur Aufheiterung der Kinder kaspert er
im Krankenhaus herum, oder er jong-
liert auf der Straße vor einem Geschäft
mit einer Werbetafel, auf der „Alles muss
raus!“ steht. Doch dann rennt ihn eine
Kindergang über den Haufen, entreißt
ihm das Schild und schlägt ihn schließlich
übel zusammen.
Ausverkauf der Menschlichkeit
Es ist eine Zeit des Ausverkaufs der
Menschlichkeit, der Müll stapelt sich
auf den Straßen von New York, wo
die Ratten das Regime übernommen
haben. Und wenn nicht der Comic-Titel
Gotham City für Manhattan fallen und
kurz ein unschuldiger Junge namens
Bruce Wayne auftauchen würde, wüss-
ten nicht mal „Batman“-Insider, dass es
hier auch eine Verbindung zum Super-
helden-Universum gibt.
Denn man bestaunt in diesem Film
schlicht die Geburt eines geistig schwer
geschädigten Monsters, das sich Joker
nennt. Ein armseliges Wesen, geplagt von
düsteren Gedanken, das eine Karriere in
der Psychiatrie hinter sich hat. Von einer
Sozialbetreuerin erfährt es, dass es kein
Geld mehr für die dringend benötigten
Medikamente gibt. Die staatlichen Pro-
gramme sind gestrichen.
All das wirkt authentisch. Geschildert
wird eine marginalisierte Gesellschaft am
unteren Rand, wie sie in der westlichen,
vor allem der amerikanischen Welt nicht
untypisch ist.
So hat das auch die Jury gesehen, die
Todd Phillips bitterböse Farce „Joker“
als düstere Psycho-Studie und Parabel
auf einen entfesselten Kapitalismus aus-
gezeichnet hat.
Bereits in Cannes, beim wichtigsten
Filmfestival der Welt, ging der Haupt-
Vor dem Sturm
Der Joker (Joaquin
Phoenix) wartet in der
Garderobe auf seinen Talk-
show-Auftritt – vor dem
Bild seines großen Idols,
des Late-Night-Gast-
gebers (Robert De Niro)