POLITIK BILDUNG
Foto: Daniel Hofer/laif
50 FOCUS 41/2019
Ein Vorschlag des „Bildungsmonitors“
ist deshalb, die Sprachförderung schon in
den Kitas auszubauen, Ganztagsschulen
zu erweitern und „eine nach Sozialindex
differenzierte Bildungsfinanzierung“ ein-
zuführen. Zudem müssten Lehrer in den
Bereichen Integration, Digitalisierung
und ökonomische Bildung qualifiziert
werden, fordern die Autoren der Studie.
Eine Lehrerin an einer Stadtteilschule
in einem anderen Hamburger Problem-
bezirk erzählt aus ihrem Alltag. „Viele
Schüler sprechen so schlechtes Deutsch,
dass sie den Aufgabenstellungen in mei-
nem Unterricht kaum folgen können. Es
hapert an der einfachsten Ausdruckswei-
se“, sagt sie. Eigentlich würde sie gern
ihren Namen nennen, allerdings sollen
Lehrer laut der Schulleitung keine allzu
ehrlichen Interviews geben. Sie bleibt
daher anonym. Jedenfalls verfolgt auch
sie mit Sorge die häufigen Schulabbrü-
che oder schlechten Bildungsabschlüsse
ihrer Schüler.
Die Eltern von Schülern mit Migrati-
onshintergrund kümmern sich kaum um
die schulischen Leistungen ihres Nach-
wuchses. Selbst wenn nach wiederhol-
tem unentschuldigtem Fehlen Bußgelder
fällig würden, zeigten viele Eltern keine
Reaktion, klagt die Lehrerin. Sie lobt die
skandinavischen Staaten, wo schon nach
kurzem Aufenthalt eine intensive, nied-
rigschwellige Sprachförderung einsetze.
Eine Schule in Berlin ist Vorzeigeprojekt
Das Münchner Ifo-Institut zeigt in seinem
jüngsten „Bildungsbarometer“, dass die
Mehrheit der Bevölkerung die Probleme
erkannt hat. 78 Prozent der Befragten
wünschen sich, dass der Staat die Kinder-
gartengebühren übernimmt, um sozial
benachteiligte Kinder zu fördern. Die Ein-
führung einer Kindergartenpflicht befür-
worten 67 Prozent. Zudem plädieren 64
Prozent dafür, dass Lehrer höhere Gehäl-
ter bekommen, wenn sie viele Kinder aus
benachteiligten Verhältnissen – ergo: mit
Migrationshintergrund – unterrichten.
Wie es gut laufen kann, zeigt ausge-
rechnet eine Schule in Berlin. Die Haupt-
stadt ist in bundesweiten Bildungsver-
gleichen regelmäßig das Schlusslicht. An
der Gustav-Falke-Grundschule jedoch
versuchen Schulleitung und Lehrer, die
Situation zu verbessern.
Die Schule liegt im Problembezirk
Wedding, 535 Kinder, 74 Prozent nicht
deutscher Herkunft. Ursprünglich sollte
sie geschlossen werden. Niemand wollte
seine Kinder mehr dorthin schicken, die
Migranten auch nicht. „Wir mussten han-
deln“, sagt Schulleiterin Sabine Gryczke.
Die Eltern im Umkreis der Schule wurden
nach ihren Wünschen und Vorschlägen
gefragt. Dabei hörten die Lehrer oft den
Satz: „Mein Kind soll gutes Deutsch ler-
nen“ – sowohl von den deutschen Eltern
als auch von den Eltern mit Zuwande-
rungsgeschichte.
Weil Berlin bekanntermaßen ziemlich
klamm ist und Hilfe vom Senat nicht zu
erwarten war, erarbeiteten Gryczke und
ihre Kollegen 2009 ihre eigene Agenda.
Jedes Kind, das an ihre Schule kommt,
wird heute auf seine Sprachkenntnisse
hin getestet. Danach erfolgt eine Ein-
teilung in vier Leistungsstufen. Die Kin-
der werden in Kleingruppen gefördert
und verbessert. Die Schwachen lernen
besseres Deutsch, die Starken Vorträge
mit PowerPoint. Der Sprachtest wird am
Ende jedes Schuljahrs wiederholt, um
Fortschritte wirklich dokumentieren zu
können – oder um nachzuarbeiten. „Das
machen wir mit allen Kindern“, sagt
Gryczke, „die gesamte sechsjährige
Grundschulzeit hindurch.“
Dabei ging es nicht ohne Tricks.
Gryczke verkürzte jede Unterrichtsstun-
de um fünf Minuten, gewann so pro Leh-
rer-Vollzeitstelle anderthalb Stunden. In
dieser Zeit findet die Kleingruppenförde-
rung statt, werden Tests geschrieben. Das
Beispiel zeigt, was auch der ISNM-„Bil-
dungsmonitor“ beschreibt: Geld allein
ist nicht die Lösung. Es braucht enga-
gierte Lehrkräfte und Sozialarbeiter an
den Schulen.
Geht man über den grünen und teils
verwinkelten Schulhof der Gustav-Fal-
ke-Schule, wähnt man sich in einer hei-
len Welt. Der Hausmeister wie auch die
Schüler grüßen so neugierig wie freund-
lich, man spürt hier keine Aggressivität.
Was aber auch damit zusammenhängt,
dass die Lehrer Fehlverhalten sofort sank-
tionieren: „Wenn zum Beispiel ein Schü-
ler als Christ, Jude oder Muslim belei-
digt wird, greifen wir sofort durch“, sagt
Gryczke. „Jede Verletzung der Würde des
anderen müssen wir ahnden, sonst wird
man das nicht mehr los.“
Seit 2014 sieht sie Erfolge ihres Kurses.
Die Sprachförderung, mehr Englisch-
und Mathe-Unterricht haben bewirkt,
dass heute 25 Prozent mehr Schüler
eine Gymnasialempfehlung erhalten
als in den Jahren davor. Die Gustav-
Falke-Grundschule gilt heute als Vor-
zeigeeinrichtung.
Die Pausenglocke läutet, Sabine Gryczke
lächelt. Schülergruppen strömen auf
den Schulhof. Sie sehen zufrieden aus,
alle zusammen. Und um solche Sachen
geht es: ihnen erst eine Gemeinschaft
zu geben, dann eine Richtung, ein Ziel.
In den mit Linoleum ausgelegten Flu-
ren hängen Plakate an den Wänden. Auf
einem werden Mädchen zum Fußball-
training eingeladen. An einer Schule mit
mancher Kopftuchträgerin ein Signal.
Für Gleichberechtigung. Für Durchset-
zungskraft. Denn: Am Ende kann alles
gelingen. Wenn man es nur anpackt.n
CHRISTOPH WÖHRLE
Streitlustiger Politiker
Carsten Linnemann, 42, will eine Vorschulpflicht
für Kinder mit Deutschschwäche
»
Ein Kind, das kein
Deutsch spricht, hat
auf einer Grundschule
noch nichts zu suchen
«
Carsten Linnemann