NATURSCHUTZ
FOCUS 41/2019 81
Er fand heraus, dass 90 Prozent der
bedrohten Brutvögel der Region aus-
gerechnet an der Menschen so brutal
abweisenden Grenze ihren bevorzugten
Rückzugsort fanden. Seine Untersuchung
war damals eine Sensation und wurde mit
dem „Jugend entdeckt Natur“-Preis aus-
gezeichnet. Kai Frobel ist heute 60 Jahre
alt und Artenschutzreferent beim Bund
für Umwelt und Naturschutz Deutschland
(BUND). Er sagt: „Ich hatte eine Schatz-
kammer entdeckt.“
Die Entdeckung des Schülers Kai Fro-
bel sollte zur Inspiration werden für eines
der spektakulärsten und erfolgreichsten
Projekte in der Geschichte des Natur-
schutzes in Deutschland. 30 Jahre nach
der Wende ist der ehemalige Todes-
streifen ein Refugium für 1200 bedrohte
Pflanzen- und Tierarten. Die Nahtstel-
le der deutschen Teilung hat sich in ein
Netzwerk aus rund 150 verschiedenen
Biotop-Typen verwandelt: Quer durch
Deutschland sprießt Wildnis, blüht eine
ökologische Zukunft, gedeiht die Wieder-
vereinigung in Grün.
Der Grenzstreifen war vielerorts schon
zu DDR-Zeiten eine Lebensader. Im
zweifelhaften Schutz des Stacheldrahts
hatten sich – ohne Düngung und land-
wirtschaftliche Nutzung – Hochstauden-
fluren, Trockenrasen, Feuchtwiesen und
Moore gebildet. DDR-Grenzer erwiesen
sich als unfreiwillige Landschaftspfleger.
Für ein freies Schussfeld schnitten sie die
Vegetation immer wieder zurück. Die so
entstandenen Brachen und Offenland-
biotope lieferten ideale Bedingungen für
seltene Pflanzen und Tiere.
Nicht nur Frobel wollte, dass dies
auch nach dem Mauerfall so bleibt. Am
- Dezember 1989 organisierte er in der
Hofer Gaststätte „Eisteich“ das erste
gesamtdeutsche Naturschützer-Tref-
fen. Statt der erwarteten 40 Besucher
kamen 400. In einer Resolution forder-
ten sie, den 1400 Kilometer langen und
bis zu 200 Meter breiten Grenzstreifen,
der sich heute durch neun Bundesländer
schlängelt, als „ökologisches Rückgrat
Mitteleuropas vorrangig zu sichern“. Sie
brauchten jetzt nur noch einen Namen für
das Gebilde, das auf einmal keinen mehr
hatte. Frobel schlug „Grünes Band“ vor.
Der Begriff und ein denkbar ambitionier-
tes Projekt waren geboren.
Der Anfang war schwierig. Weil die Ei-
gentumsverhältnisse unklar waren, pflüg-
ten Landwirte viele Biotope illegal unter.
Die Bundesregierung verabschiedete 1996
das „Mauergrundstücksgesetz“, wonach
die bundeseigenen Flächen, immerhin
die Hälfte des gesamten Grünen Bandes,
auf dem freien Markt verkauft wurden.
„Rund ein Zehntel der gesamten Strecke
ging dem Naturschutz damals verloren“,
beklagt Kai Frobel, Erfinder des Grünen
Bandes. Doch mit Spenden und Fördermit-
teln gelang es dem BUND, mehr als 1000
Hektar Fläche zurückzukaufen.
Mittlerweile stehen 70 Prozent der
gesamten Strecke unter Schutz; die Hälf-
te ist als „Nationales Naturmonument“
ausgewiesen, eine in Deutschland vor
zehn Jahren eingeführte Kategorie, die
auch kulturhistorische Aspekte würdigt.
Deshalb stößt man bei Wanderungen am
Grünen Band heute nicht nur auf Arten-
vielfalt und stille Einsamkeit, sondern
auch auf Grenzmuseen, Gedenktafeln
und auf einst im Sperrgebiet mit Bulldo-
zern umgepflügte Ortschaften. Wer weiß
heute schon noch, dass mindestens 14 000
DDR-Bürger ins Landesinnere zwangs-
umgesiedelt wurden?
Vom Turm ein Blick auf ein Problem
Am Rande von Salzwedel, ein paar Meter
von der jetzigen B 248 entfernt, steht
einer von ehemals 578 Grenztürmen.
Ihm zu Füßen blüht der Kriechende Sel-
lerie, den Dieter Leupold hier als gezielte
Artenschutzmaßnahme angepflanzt hat-
te. Leupold, 58 Jahre alt und stellver-
tretender Landesvorsitzender des BUND
Sachsen-Anhalt, sperrt die schwere Tür
zur Erinnerung auf. Dahinter: brüchiger
Putz, Spinnweben und ein leichtes Gefühl
der Beklemmung. Schiebt man sich die
schmale Metall-Leiter hoch durch die
enge Luke hinauf, erreicht man einen
Raum mit 360-Grad-Panorama-Blick. Von
hier oben aus waren Flüchtlinge kilo-
meterweit zu erkennen, sollten sie sich
in die mörderische Zone wagen – zwi-
schen dem drei Meter hohen Signalzaun,
der bei Berührung Alarm auslöste, der
Hundelaufanlage, den Minenfeldern,
dem geharkten Spurenstreifen und dem
Streckmetallzaun mit den scharfkantigen
Aussparungen, genau so groß, dass man
denkt, man könne vielleicht mit den Fin-
gern hineinfassen. Bis man es versucht.
Heute ermöglicht der Turm den Blick
auf ein aktuelles Problem. Auf 13 Prozent
der Gesamtlänge des Grünen Bandes,
auf etwa 170 Kilometern, gibt es noch
Lücken, die der BUND gern schließen
möchte. Von hier oben kann man den
Forst Salzwedel sehen, der bis vor zwei
Jahren kommunales Eigentum war. Um
ihren Haushalt zu sanieren, verkaufte
die Stadt den Wald. Leider nicht an den
BUND.
Der neue Eigentümer, ein Investor aus
Nordrhein-Westfalen, schlägt nun Holz
ein. Die Erlenwälder seien entwässert
worden, beklagt Leupold. „Wir wissen
natürlich nicht, wer es war.“ Wohl aber,
was die Folge davon ist: In diesem Jahr sei
die sonst flächendeckende Blüte der Was-
serfeder fast ausgeblieben. Der Unter-
wuchs habe sich verändert. Himbeere
und Hopfen deuten auf einen Nährstoff-
überschuss hin. Der Torf zersetzt sich.
„Jährlich bis zu 30 Tonnen pro Hektar“,
warnt Leupold. „Der Boden sackt zusam-
men.“ Teilweise so stark, dass die Erlen-
wurzeln in der Luft stehen. Leupold kann
das mit zahlreichen Fotos belegen.
Quer durch Deutschland schlängelt sich ein Stück ökologische Zukunft
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